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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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losigkeiten und Missbräuche schleichen sich nicht nur in einmal kon-
solidierte Verfassungen ein, sondern sie häufen und steigern sich unter-
halb der Schwelle des sozialen Bewusstseins, oft bis zu einem Grade,
dessen Ertragenwerden man von dem Augenblick an nicht mehr be-
greift, in dem ein allgemeines Aufräumen, oft auf ganz andersartige
Anregungen hin, jene Missstände zum Bewusstsein gebracht hat. Oft
sind es bekanntlich erst die Erschütterungen durch einen äusseren Krieg,
die die Widersprüche und eingerotteten Schäden eines Staates offenbar
machen. Dies begründet z. B. die schon sonst hervorgehobene Be-
obachtung, dass sehr krasse soziale Unterschiede, unversöhnliche Höhen-
abstände der Klassen von einander in der Regel mit sozialem Frieden
Hand in Hand gehen. Der Ruf nach ausgleichenden Reformen oder
Revolutionen pflegt sich erst zu erheben, wenn die Starrheit der Klassen-
schranken sich gemildert hat und lebhaftere Bewegungen innerhalb der
Gesellschaft gewisse vermittelnde und Übergangserscheinungen, eine
Seh- und Vergleichungsnähe zwischen den Ständen erzeugt haben.
Sobald das nun geschehen ist, tritt den unteren Klassen ihre Unter-
drücktheit, den oberen teils die sittliche Verantwortung dafür, teils der
Trieb, ihren Besitzstand zu verteidigen, ins Bewusstsein, und der soziale
Friede ist unterbrochen. Innerhalb der Geldwirtschaft nun ist die Be-
wegtheit des Lebenssystems, durch die das Bewusstsein zu Unterschieds-
und Schwellenempfindungen gereizt wird, eine ganz besonders ver-
breitete und lebhafte. Die Fixierung von Verhältnissen, die den
gesteigerten Veranlassungen zu Bewusstseinsreaktionen diese Folge vor-
enthält, wird bei ihrer Begründung auf Geld immerzu unterbrochen,
weil alle solche etwas Labiles und der Ruhelage Widerstrebendes haben,
und zwar insbesondere weil das Geld keine sachliche Beziehung zu
Persönlichkeiten hat und nicht wie eine Rangstufe oder eine De-
klassierung, wie ein Beruf oder ein moralischer Wert, eine Gefühls-
beziehung oder eine Thätigkeit, gleichsam an jene anwächst. Alle auf
solche Lebensinhalte gegründeten Verhältnisse haben wegen der rela-
tiven Festigkeit, mit der sie den Personen zugehören, eine Art von
Stabilität und setzen dem Einfluss abändernder Elemente eine gewisse
Trägheit entgegen, die erst bei einer erheblichen Summierung jener
ihnen die ganz proportionierte Folge verschafft. Das Geld dagegen, das
wegen seiner Qualitätlosigkeit auch zu keiner qualitativ bestimmten
Persönlichkeit als solcher eine Beziehung hat, gleitet ohne innere Wider-
stände von der einen ab und zur andern hin, so dass die darauf ge-
gründeten Verhältnisse und Zustände jeder Veranlassung zu Änderungen
leicht und adäquat nachgeben, oder, unser jetziges Interesse ge-
nauer ausdrückend: dass die Summierungserscheinungen des Geldes,

losigkeiten und Miſsbräuche schleichen sich nicht nur in einmal kon-
solidierte Verfassungen ein, sondern sie häufen und steigern sich unter-
halb der Schwelle des sozialen Bewuſstseins, oft bis zu einem Grade,
dessen Ertragenwerden man von dem Augenblick an nicht mehr be-
greift, in dem ein allgemeines Aufräumen, oft auf ganz andersartige
Anregungen hin, jene Miſsstände zum Bewuſstsein gebracht hat. Oft
sind es bekanntlich erst die Erschütterungen durch einen äuſseren Krieg,
die die Widersprüche und eingerotteten Schäden eines Staates offenbar
machen. Dies begründet z. B. die schon sonst hervorgehobene Be-
obachtung, daſs sehr krasse soziale Unterschiede, unversöhnliche Höhen-
abstände der Klassen von einander in der Regel mit sozialem Frieden
Hand in Hand gehen. Der Ruf nach ausgleichenden Reformen oder
Revolutionen pflegt sich erst zu erheben, wenn die Starrheit der Klassen-
schranken sich gemildert hat und lebhaftere Bewegungen innerhalb der
Gesellschaft gewisse vermittelnde und Übergangserscheinungen, eine
Seh- und Vergleichungsnähe zwischen den Ständen erzeugt haben.
Sobald das nun geschehen ist, tritt den unteren Klassen ihre Unter-
drücktheit, den oberen teils die sittliche Verantwortung dafür, teils der
Trieb, ihren Besitzstand zu verteidigen, ins Bewuſstsein, und der soziale
Friede ist unterbrochen. Innerhalb der Geldwirtschaft nun ist die Be-
wegtheit des Lebenssystems, durch die das Bewuſstsein zu Unterschieds-
und Schwellenempfindungen gereizt wird, eine ganz besonders ver-
breitete und lebhafte. Die Fixierung von Verhältnissen, die den
gesteigerten Veranlassungen zu Bewuſstseinsreaktionen diese Folge vor-
enthält, wird bei ihrer Begründung auf Geld immerzu unterbrochen,
weil alle solche etwas Labiles und der Ruhelage Widerstrebendes haben,
und zwar insbesondere weil das Geld keine sachliche Beziehung zu
Persönlichkeiten hat und nicht wie eine Rangstufe oder eine De-
klassierung, wie ein Beruf oder ein moralischer Wert, eine Gefühls-
beziehung oder eine Thätigkeit, gleichsam an jene anwächst. Alle auf
solche Lebensinhalte gegründeten Verhältnisse haben wegen der rela-
tiven Festigkeit, mit der sie den Personen zugehören, eine Art von
Stabilität und setzen dem Einfluſs abändernder Elemente eine gewisse
Trägheit entgegen, die erst bei einer erheblichen Summierung jener
ihnen die ganz proportionierte Folge verschafft. Das Geld dagegen, das
wegen seiner Qualitätlosigkeit auch zu keiner qualitativ bestimmten
Persönlichkeit als solcher eine Beziehung hat, gleitet ohne innere Wider-
stände von der einen ab und zur andern hin, so daſs die darauf ge-
gründeten Verhältnisse und Zustände jeder Veranlassung zu Änderungen
leicht und adäquat nachgeben, oder, unser jetziges Interesse ge-
nauer ausdrückend: daſs die Summierungserscheinungen des Geldes,

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[265/0289] losigkeiten und Miſsbräuche schleichen sich nicht nur in einmal kon- solidierte Verfassungen ein, sondern sie häufen und steigern sich unter- halb der Schwelle des sozialen Bewuſstseins, oft bis zu einem Grade, dessen Ertragenwerden man von dem Augenblick an nicht mehr be- greift, in dem ein allgemeines Aufräumen, oft auf ganz andersartige Anregungen hin, jene Miſsstände zum Bewuſstsein gebracht hat. Oft sind es bekanntlich erst die Erschütterungen durch einen äuſseren Krieg, die die Widersprüche und eingerotteten Schäden eines Staates offenbar machen. Dies begründet z. B. die schon sonst hervorgehobene Be- obachtung, daſs sehr krasse soziale Unterschiede, unversöhnliche Höhen- abstände der Klassen von einander in der Regel mit sozialem Frieden Hand in Hand gehen. Der Ruf nach ausgleichenden Reformen oder Revolutionen pflegt sich erst zu erheben, wenn die Starrheit der Klassen- schranken sich gemildert hat und lebhaftere Bewegungen innerhalb der Gesellschaft gewisse vermittelnde und Übergangserscheinungen, eine Seh- und Vergleichungsnähe zwischen den Ständen erzeugt haben. Sobald das nun geschehen ist, tritt den unteren Klassen ihre Unter- drücktheit, den oberen teils die sittliche Verantwortung dafür, teils der Trieb, ihren Besitzstand zu verteidigen, ins Bewuſstsein, und der soziale Friede ist unterbrochen. Innerhalb der Geldwirtschaft nun ist die Be- wegtheit des Lebenssystems, durch die das Bewuſstsein zu Unterschieds- und Schwellenempfindungen gereizt wird, eine ganz besonders ver- breitete und lebhafte. Die Fixierung von Verhältnissen, die den gesteigerten Veranlassungen zu Bewuſstseinsreaktionen diese Folge vor- enthält, wird bei ihrer Begründung auf Geld immerzu unterbrochen, weil alle solche etwas Labiles und der Ruhelage Widerstrebendes haben, und zwar insbesondere weil das Geld keine sachliche Beziehung zu Persönlichkeiten hat und nicht wie eine Rangstufe oder eine De- klassierung, wie ein Beruf oder ein moralischer Wert, eine Gefühls- beziehung oder eine Thätigkeit, gleichsam an jene anwächst. Alle auf solche Lebensinhalte gegründeten Verhältnisse haben wegen der rela- tiven Festigkeit, mit der sie den Personen zugehören, eine Art von Stabilität und setzen dem Einfluſs abändernder Elemente eine gewisse Trägheit entgegen, die erst bei einer erheblichen Summierung jener ihnen die ganz proportionierte Folge verschafft. Das Geld dagegen, das wegen seiner Qualitätlosigkeit auch zu keiner qualitativ bestimmten Persönlichkeit als solcher eine Beziehung hat, gleitet ohne innere Wider- stände von der einen ab und zur andern hin, so daſs die darauf ge- gründeten Verhältnisse und Zustände jeder Veranlassung zu Änderungen leicht und adäquat nachgeben, oder, unser jetziges Interesse ge- nauer ausdrückend: daſs die Summierungserscheinungen des Geldes,

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/289>, abgerufen am 23.11.2024.