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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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wenn schon nicht rein privatrechtlich, so doch jenem Indifferenzzustand
privaten und öffentlichen Rechtes zugehörig, mit dem allenthalben die
soziale Entwicklung beginnt. Der Stamm, die Gens, die Familie
forderte einen Ersatz für den ökonomischen Verlust, den der Tod
eines Mitglieds für sie bedeutete, und liess sich damit für die impulsiv
naheliegende Blutrache abfinden. Diese Umwandlung fixiert sich
schliesslich in Fällen, wo die Blutrache, die sie ablösen sollen, selbst
unmöglich wäre: bei den Goajiro-Indianern muss jemand, der sich
selbst zufällig verletzt, der eigenen Familie einen Ersatz leisten, weil
er das Blut der Familie vergossen hat. Sehr charakteristisch bezeichnet
bei einigen Malaienvölkern das Wort für Blutgeld zugleich: auf-
stehen, sich aufrichten. Es gilt also die Vorstellung, dass mit dem er-
legten Blutgeld der Erschlagene für die Seinigen wieder aufersteht,
dass die Lücke, die sein Tod gerissen hat, nun ausgefüllt ist. Allein
ganz abgesehen davon, dass neben der Zahlung an die Verwandten,
wenigstens bei den Germanen, schon sehr früh auch eine besondere
Busse für die Störung des Gemeinfriedens zu erlegen war, so enthielt
jener privatökonomische Ursprung des Wergeldes von vornherein ein
objektiv-überindividuelles Element, indem seine Höhe durch Sitte oder
Gesetz fixiert war, wenn auch für die verschiedenen Stände sehr ver-
schieden hoch. So war jedem Menschen sein Wert von der Geburt
an bestimmt, ganz gleichgültig, welchen Wert er dann in Wirklichkeit
für seine Angehörigen repräsentierte. Damit wurde also nicht nur
gleichsam der Mensch als Substanz im Unterschied von der Summe
seiner konkreten Leistungen gewertet, sondern die Vorstellung ein-
geleitet, dass er an sich und nicht nur für andere so und so viel wert
sei. Eine bezeichnende Übergangserscheinung von der subjektiv-ökono-
mischen zu einer objektiven Wertung ist die folgende. Im jüdischen
Reiche etwa des dritten Jahrhunderts war der Normalpreis eines
Sklaven 50, der einer Sklavin 30 Schekel (ca. 45 bezw. 27 Mark).
Als Schadenersatz für die Tötung eines Sklaven oder einer Sklavin
musste man dennoch durchweg 30 Sela (ca. 73 Mark) geben, da man
hierfür den pentateuchischen Ansatz von 30 Schekel festhielt und
darin irrtümlich 30 Sela erblickte. Man hielt sich also nicht an die
ganz sicher feststellbare wirtschaftliche Grösse des zugefügten Schadens,
sondern an eine aus ganz anderen als wirtschaftlichen Quellen
stammende Bestimmung, die mit jener in einem auffallenden Gegen-
satz stand. So war damit zwar noch nicht die Vorstellung begründet,
dass dieser Sklave einen ganz bestimmten Wert, abgesehen von seiner
Nützlichkeit für seinen Besitzer, hatte. Allein der Unterschied zwischen
seinem Preise, der diese Nützlichkeit ausdrückte, und dem Sühnegeld

wenn schon nicht rein privatrechtlich, so doch jenem Indifferenzzustand
privaten und öffentlichen Rechtes zugehörig, mit dem allenthalben die
soziale Entwicklung beginnt. Der Stamm, die Gens, die Familie
forderte einen Ersatz für den ökonomischen Verlust, den der Tod
eines Mitglieds für sie bedeutete, und lieſs sich damit für die impulsiv
naheliegende Blutrache abfinden. Diese Umwandlung fixiert sich
schlieſslich in Fällen, wo die Blutrache, die sie ablösen sollen, selbst
unmöglich wäre: bei den Goajiro-Indianern muſs jemand, der sich
selbst zufällig verletzt, der eigenen Familie einen Ersatz leisten, weil
er das Blut der Familie vergossen hat. Sehr charakteristisch bezeichnet
bei einigen Malaienvölkern das Wort für Blutgeld zugleich: auf-
stehen, sich aufrichten. Es gilt also die Vorstellung, daſs mit dem er-
legten Blutgeld der Erschlagene für die Seinigen wieder aufersteht,
daſs die Lücke, die sein Tod gerissen hat, nun ausgefüllt ist. Allein
ganz abgesehen davon, daſs neben der Zahlung an die Verwandten,
wenigstens bei den Germanen, schon sehr früh auch eine besondere
Buſse für die Störung des Gemeinfriedens zu erlegen war, so enthielt
jener privatökonomische Ursprung des Wergeldes von vornherein ein
objektiv-überindividuelles Element, indem seine Höhe durch Sitte oder
Gesetz fixiert war, wenn auch für die verschiedenen Stände sehr ver-
schieden hoch. So war jedem Menschen sein Wert von der Geburt
an bestimmt, ganz gleichgültig, welchen Wert er dann in Wirklichkeit
für seine Angehörigen repräsentierte. Damit wurde also nicht nur
gleichsam der Mensch als Substanz im Unterschied von der Summe
seiner konkreten Leistungen gewertet, sondern die Vorstellung ein-
geleitet, daſs er an sich und nicht nur für andere so und so viel wert
sei. Eine bezeichnende Übergangserscheinung von der subjektiv-ökono-
mischen zu einer objektiven Wertung ist die folgende. Im jüdischen
Reiche etwa des dritten Jahrhunderts war der Normalpreis eines
Sklaven 50, der einer Sklavin 30 Schekel (ca. 45 bezw. 27 Mark).
Als Schadenersatz für die Tötung eines Sklaven oder einer Sklavin
muſste man dennoch durchweg 30 Sela (ca. 73 Mark) geben, da man
hierfür den pentateuchischen Ansatz von 30 Schekel festhielt und
darin irrtümlich 30 Sela erblickte. Man hielt sich also nicht an die
ganz sicher feststellbare wirtschaftliche Gröſse des zugefügten Schadens,
sondern an eine aus ganz anderen als wirtschaftlichen Quellen
stammende Bestimmung, die mit jener in einem auffallenden Gegen-
satz stand. So war damit zwar noch nicht die Vorstellung begründet,
daſs dieser Sklave einen ganz bestimmten Wert, abgesehen von seiner
Nützlichkeit für seinen Besitzer, hatte. Allein der Unterschied zwischen
seinem Preise, der diese Nützlichkeit ausdrückte, und dem Sühnegeld

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[368/0392] wenn schon nicht rein privatrechtlich, so doch jenem Indifferenzzustand privaten und öffentlichen Rechtes zugehörig, mit dem allenthalben die soziale Entwicklung beginnt. Der Stamm, die Gens, die Familie forderte einen Ersatz für den ökonomischen Verlust, den der Tod eines Mitglieds für sie bedeutete, und lieſs sich damit für die impulsiv naheliegende Blutrache abfinden. Diese Umwandlung fixiert sich schlieſslich in Fällen, wo die Blutrache, die sie ablösen sollen, selbst unmöglich wäre: bei den Goajiro-Indianern muſs jemand, der sich selbst zufällig verletzt, der eigenen Familie einen Ersatz leisten, weil er das Blut der Familie vergossen hat. Sehr charakteristisch bezeichnet bei einigen Malaienvölkern das Wort für Blutgeld zugleich: auf- stehen, sich aufrichten. Es gilt also die Vorstellung, daſs mit dem er- legten Blutgeld der Erschlagene für die Seinigen wieder aufersteht, daſs die Lücke, die sein Tod gerissen hat, nun ausgefüllt ist. Allein ganz abgesehen davon, daſs neben der Zahlung an die Verwandten, wenigstens bei den Germanen, schon sehr früh auch eine besondere Buſse für die Störung des Gemeinfriedens zu erlegen war, so enthielt jener privatökonomische Ursprung des Wergeldes von vornherein ein objektiv-überindividuelles Element, indem seine Höhe durch Sitte oder Gesetz fixiert war, wenn auch für die verschiedenen Stände sehr ver- schieden hoch. So war jedem Menschen sein Wert von der Geburt an bestimmt, ganz gleichgültig, welchen Wert er dann in Wirklichkeit für seine Angehörigen repräsentierte. Damit wurde also nicht nur gleichsam der Mensch als Substanz im Unterschied von der Summe seiner konkreten Leistungen gewertet, sondern die Vorstellung ein- geleitet, daſs er an sich und nicht nur für andere so und so viel wert sei. Eine bezeichnende Übergangserscheinung von der subjektiv-ökono- mischen zu einer objektiven Wertung ist die folgende. Im jüdischen Reiche etwa des dritten Jahrhunderts war der Normalpreis eines Sklaven 50, der einer Sklavin 30 Schekel (ca. 45 bezw. 27 Mark). Als Schadenersatz für die Tötung eines Sklaven oder einer Sklavin muſste man dennoch durchweg 30 Sela (ca. 73 Mark) geben, da man hierfür den pentateuchischen Ansatz von 30 Schekel festhielt und darin irrtümlich 30 Sela erblickte. Man hielt sich also nicht an die ganz sicher feststellbare wirtschaftliche Gröſse des zugefügten Schadens, sondern an eine aus ganz anderen als wirtschaftlichen Quellen stammende Bestimmung, die mit jener in einem auffallenden Gegen- satz stand. So war damit zwar noch nicht die Vorstellung begründet, daſs dieser Sklave einen ganz bestimmten Wert, abgesehen von seiner Nützlichkeit für seinen Besitzer, hatte. Allein der Unterschied zwischen seinem Preise, der diese Nützlichkeit ausdrückte, und dem Sühnegeld

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/392>, abgerufen am 22.11.2024.