gebenen Augenblick unseren Wissensschatz ausmacht, also im Hinblick auf die Entwicklung bezeichnen, zu der dieser strebt und an der sich jedes gegenwärtige Stadium in seiner Bedeutung misst -- so können wir das auch nur durch die Voraussetzung, die jener Platonischen Lehre zum Grunde liegt: dass es ein ideales Reich der theoretischen Werte, des vollendeten intellektuellen Sinnes und Zusammenhanges giebt, das weder mit den Objekten zusammenfällt -- da diese ja eben erst seine Objekte sind -- noch mit dem jeweilig erreichten, psycho- logisch wirklichen Erkennen. Dieses letztere vielmehr bringt sich erst allmählich und immer unvollkommen mit jenem, das alle überhaupt mög- liche Wahrheit einschliesst, zur Deckung, es ist wahr in dem Masse, in dem ihm das gelingt. Die Grundthatsache dieses Gefühles: dass unser Er- kennen in jedem Augenblick der Teil eines nur ideell vorhandenen, aber uns zur psychischen Verwirklichung dargebotenen und sie fordernden Komplexes der Erkenntnisse ist -- diese scheint für Plato bestanden zu haben; nur dass er sie als einen Abfall des wirklichen Erkennens von dem einstigen Besitz dieser Totalität ausdrückte, als ein Nicht-Mehr, was wir heute als ein Noch-Nicht auffassen müssen. Das Verhältnis selbst aber kann offenbar bei beiden Deutungen -- wie sich ja die identische Summe sowohl durch Subtraktion von Höherem, wie durch Addition von Niedrigerem herstellen lässt -- als das ganz gleich ge- fühlte zum Grunde liegen. Die eigentümliche Daseinsart dieses Er- kenntnisideals, das unseren wirklichen Erkenntnissen als Norm oder Totalität gegenübersteht, ist dieselbe, wie sie der Gesamtheit sittlicher Werte und Vorschriften, gegenüber dem thatsächlichen Handeln der In- dividuen, zukommt. Hier, auf dem ethischen Gebiet, ist uns das Be- wusstsein geläufiger, dass unser Thun eine in sich gültige Norm voll- ständiger oder mangelhafter verwirklicht. Diese Norm -- welche übrigens ihrem Inhalte nach für jeden Menschen und für jede Epoche seines Lebens verschieden sein mag -- ist weder in Raum und Zeit auffindbar, noch fällt sie mit dem ethischen Bewusstsein zusammen, das sich vielmehr als von ihr abhängig empfindet. Und so ist dies schliesslich die Formel unseres Lebens überhaupt, von der banalen Praxis des Tages bis zu den höchsten Gipfeln der Geistigkeit: in allem Wirken haben wir eine Norm, einen Massstab, eine ideell vorgebildete Totalität über uns, die eben durch dies Wirken in die Form der Realität übergeführt wird -- womit nicht nur das Einfache und All- gemeine gemeint ist, dass jedes Wollen durch irgend ein Ideal gelenkt wird. Sondern es steht ein bestimmter, mehr oder weniger deutlicher Charakter unseres Handelns in Frage, der sich nur so ausdrücken lässt, dass wir mit diesem Handeln, gleichviel ob es seinem Werte nach etwa
gebenen Augenblick unseren Wissensschatz ausmacht, also im Hinblick auf die Entwicklung bezeichnen, zu der dieser strebt und an der sich jedes gegenwärtige Stadium in seiner Bedeutung miſst — so können wir das auch nur durch die Voraussetzung, die jener Platonischen Lehre zum Grunde liegt: daſs es ein ideales Reich der theoretischen Werte, des vollendeten intellektuellen Sinnes und Zusammenhanges giebt, das weder mit den Objekten zusammenfällt — da diese ja eben erst seine Objekte sind — noch mit dem jeweilig erreichten, psycho- logisch wirklichen Erkennen. Dieses letztere vielmehr bringt sich erst allmählich und immer unvollkommen mit jenem, das alle überhaupt mög- liche Wahrheit einschlieſst, zur Deckung, es ist wahr in dem Maſse, in dem ihm das gelingt. Die Grundthatsache dieses Gefühles: daſs unser Er- kennen in jedem Augenblick der Teil eines nur ideell vorhandenen, aber uns zur psychischen Verwirklichung dargebotenen und sie fordernden Komplexes der Erkenntnisse ist — diese scheint für Plato bestanden zu haben; nur daſs er sie als einen Abfall des wirklichen Erkennens von dem einstigen Besitz dieser Totalität ausdrückte, als ein Nicht-Mehr, was wir heute als ein Noch-Nicht auffassen müssen. Das Verhältnis selbst aber kann offenbar bei beiden Deutungen — wie sich ja die identische Summe sowohl durch Subtraktion von Höherem, wie durch Addition von Niedrigerem herstellen läſst — als das ganz gleich ge- fühlte zum Grunde liegen. Die eigentümliche Daseinsart dieses Er- kenntnisideals, das unseren wirklichen Erkenntnissen als Norm oder Totalität gegenübersteht, ist dieselbe, wie sie der Gesamtheit sittlicher Werte und Vorschriften, gegenüber dem thatsächlichen Handeln der In- dividuen, zukommt. Hier, auf dem ethischen Gebiet, ist uns das Be- wuſstsein geläufiger, daſs unser Thun eine in sich gültige Norm voll- ständiger oder mangelhafter verwirklicht. Diese Norm — welche übrigens ihrem Inhalte nach für jeden Menschen und für jede Epoche seines Lebens verschieden sein mag — ist weder in Raum und Zeit auffindbar, noch fällt sie mit dem ethischen Bewuſstsein zusammen, das sich vielmehr als von ihr abhängig empfindet. Und so ist dies schlieſslich die Formel unseres Lebens überhaupt, von der banalen Praxis des Tages bis zu den höchsten Gipfeln der Geistigkeit: in allem Wirken haben wir eine Norm, einen Maſsstab, eine ideell vorgebildete Totalität über uns, die eben durch dies Wirken in die Form der Realität übergeführt wird — womit nicht nur das Einfache und All- gemeine gemeint ist, daſs jedes Wollen durch irgend ein Ideal gelenkt wird. Sondern es steht ein bestimmter, mehr oder weniger deutlicher Charakter unseres Handelns in Frage, der sich nur so ausdrücken läſst, daſs wir mit diesem Handeln, gleichviel ob es seinem Werte nach etwa
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[480/0504]
gebenen Augenblick unseren Wissensschatz ausmacht, also im Hinblick
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wir das auch nur durch die Voraussetzung, die jener Platonischen
Lehre zum Grunde liegt: daſs es ein ideales Reich der theoretischen
Werte, des vollendeten intellektuellen Sinnes und Zusammenhanges
giebt, das weder mit den Objekten zusammenfällt — da diese ja eben
erst seine Objekte sind — noch mit dem jeweilig erreichten, psycho-
logisch wirklichen Erkennen. Dieses letztere vielmehr bringt sich erst
allmählich und immer unvollkommen mit jenem, das alle überhaupt mög-
liche Wahrheit einschlieſst, zur Deckung, es ist wahr in dem Maſse, in
dem ihm das gelingt. Die Grundthatsache dieses Gefühles: daſs unser Er-
kennen in jedem Augenblick der Teil eines nur ideell vorhandenen, aber
uns zur psychischen Verwirklichung dargebotenen und sie fordernden
Komplexes der Erkenntnisse ist — diese scheint für Plato bestanden zu
haben; nur daſs er sie als einen Abfall des wirklichen Erkennens von
dem einstigen Besitz dieser Totalität ausdrückte, als ein Nicht-Mehr,
was wir heute als ein Noch-Nicht auffassen müssen. Das Verhältnis
selbst aber kann offenbar bei beiden Deutungen — wie sich ja die
identische Summe sowohl durch Subtraktion von Höherem, wie durch
Addition von Niedrigerem herstellen läſst — als das ganz gleich ge-
fühlte zum Grunde liegen. Die eigentümliche Daseinsart dieses Er-
kenntnisideals, das unseren wirklichen Erkenntnissen als Norm oder
Totalität gegenübersteht, ist dieselbe, wie sie der Gesamtheit sittlicher
Werte und Vorschriften, gegenüber dem thatsächlichen Handeln der In-
dividuen, zukommt. Hier, auf dem ethischen Gebiet, ist uns das Be-
wuſstsein geläufiger, daſs unser Thun eine in sich gültige Norm voll-
ständiger oder mangelhafter verwirklicht. Diese Norm — welche
übrigens ihrem Inhalte nach für jeden Menschen und für jede Epoche
seines Lebens verschieden sein mag — ist weder in Raum und Zeit
auffindbar, noch fällt sie mit dem ethischen Bewuſstsein zusammen,
das sich vielmehr als von ihr abhängig empfindet. Und so ist dies
schlieſslich die Formel unseres Lebens überhaupt, von der banalen
Praxis des Tages bis zu den höchsten Gipfeln der Geistigkeit: in allem
Wirken haben wir eine Norm, einen Maſsstab, eine ideell vorgebildete
Totalität über uns, die eben durch dies Wirken in die Form der
Realität übergeführt wird — womit nicht nur das Einfache und All-
gemeine gemeint ist, daſs jedes Wollen durch irgend ein Ideal gelenkt
wird. Sondern es steht ein bestimmter, mehr oder weniger deutlicher
Charakter unseres Handelns in Frage, der sich nur so ausdrücken läſst,
daſs wir mit diesem Handeln, gleichviel ob es seinem Werte nach etwa
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/504>, abgerufen am 22.11.2024.
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