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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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der Menschen -- sich von seinem Inhalt trennen kann; dieser Inhalt
nimmt, in jene Kategorie tretend, gleichsam einen anderen Aggregat-
zustand an, und damit ist die prinzipielle Grundlage für die Erschei-
nung geschaffen, die uns als gesonderte Entwicklung der sachlichen
und der personalen Kultur entgegentrat. Mit der Vergegenständlichung
des Geistes ist die Form gewonnen, die ein Konservieren und Auf-
häufen der Bewusstseinsarbeit gestattet; sie ist die bedeutsamste und
folgenreichste unter den historischen Kategorien der Menschheit. Denn
sie macht zur geschichtlichen Thatsache, was als biologische so zweifel-
haft ist: die Vererbung des Erworbenen. Wenn man es als den
Vorzug des Menschen den Tieren gegenüber bezeichnet hat, dass er
Erbe und nicht bloss Nachkomme wäre, so ist die Vergegenständlichung
des Geistes in Worten und Werken, Organisationen und Traditionen
der Träger dieser Unterscheidung, die dem Menschen erst seine Welt,
ja: eine Welt schenkt.

Ist dieser objektive Geist der geschichtlichen Gesellschaft nun ihr
Kulturinhalt im weitesten Sinne, so misst sich die praktische Kultur-
bedeutung seiner einzelnen Bestandteile dennoch an dem Umfang, in
dem sie zu Entwicklungsmomenten der Individuen werden. Denn an-
genommen, jene Entdeckung Newtons stünde nur in einem Buch, von
dem niemand weiss, so wäre sie zwar immer noch objektiv gewordener
Geist und ein potenzieller Besitz der Gesellschaft, aber kein Kulturwert
mehr. Da dieser extreme Fall in unzähligen Abstufungen auftreten
kann, so ergiebt sich unmittelbar, dass in einer grösseren Gesellschaft
immer nur ein gewisser Teil der objektiven Kulturwerte zu subjektiven
werden wird. Betrachtet man die Gesellschaft als ein Ganzes, d. h.
ordnet man die in ihr überhaupt objektiv werdende Geistigkeit in
einen zeitlich-sachlichen Komplex, so ist die gesamte Kulturentwick-
lung, für die man so einen einheitlichen Träger fingiert hat, reicher
an Inhalten, als die jedes ihrer Elemente. Denn die Leistung jedes
Elementes steigt in jenen Gesamtbesitz auf, aber dieser nicht zu jedem
Element hinab. Der ganze Stil des Lebens einer Gemeinschaft hängt
von dem Verhältnis ab, in dem die objektiv gewordne Kultur zu der
Kultur der Subjekte steht. Auf die Bedeutung der numerischen Be-
stimmtheiten habe ich schon hingedeutet. In einem kleinen Kreise von
niedriger Kultur wird jenes Verhältnis nahezu eines der Deckung sein,
die objektiven Kulturmöglichkeiten werden die subjektiven Kulturwirk-
lichkeiten nicht weit überragen. Eine Steigerung des Kulturniveaus
-- insbesondere wenn es mit einer Vergrösserung des Kreises gleichzeitig
ist -- wird das Auseinanderfallen beider begünstigen: es war die
unvergleichliche Situation Athens in seiner Blütezeit, dass es bei all

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der Menschen — sich von seinem Inhalt trennen kann; dieser Inhalt
nimmt, in jene Kategorie tretend, gleichsam einen anderen Aggregat-
zustand an, und damit ist die prinzipielle Grundlage für die Erschei-
nung geschaffen, die uns als gesonderte Entwicklung der sachlichen
und der personalen Kultur entgegentrat. Mit der Vergegenständlichung
des Geistes ist die Form gewonnen, die ein Konservieren und Auf-
häufen der Bewuſstseinsarbeit gestattet; sie ist die bedeutsamste und
folgenreichste unter den historischen Kategorien der Menschheit. Denn
sie macht zur geschichtlichen Thatsache, was als biologische so zweifel-
haft ist: die Vererbung des Erworbenen. Wenn man es als den
Vorzug des Menschen den Tieren gegenüber bezeichnet hat, daſs er
Erbe und nicht bloſs Nachkomme wäre, so ist die Vergegenständlichung
des Geistes in Worten und Werken, Organisationen und Traditionen
der Träger dieser Unterscheidung, die dem Menschen erst seine Welt,
ja: eine Welt schenkt.

Ist dieser objektive Geist der geschichtlichen Gesellschaft nun ihr
Kulturinhalt im weitesten Sinne, so miſst sich die praktische Kultur-
bedeutung seiner einzelnen Bestandteile dennoch an dem Umfang, in
dem sie zu Entwicklungsmomenten der Individuen werden. Denn an-
genommen, jene Entdeckung Newtons stünde nur in einem Buch, von
dem niemand weiſs, so wäre sie zwar immer noch objektiv gewordener
Geist und ein potenzieller Besitz der Gesellschaft, aber kein Kulturwert
mehr. Da dieser extreme Fall in unzähligen Abstufungen auftreten
kann, so ergiebt sich unmittelbar, daſs in einer gröſseren Gesellschaft
immer nur ein gewisser Teil der objektiven Kulturwerte zu subjektiven
werden wird. Betrachtet man die Gesellschaft als ein Ganzes, d. h.
ordnet man die in ihr überhaupt objektiv werdende Geistigkeit in
einen zeitlich-sachlichen Komplex, so ist die gesamte Kulturentwick-
lung, für die man so einen einheitlichen Träger fingiert hat, reicher
an Inhalten, als die jedes ihrer Elemente. Denn die Leistung jedes
Elementes steigt in jenen Gesamtbesitz auf, aber dieser nicht zu jedem
Element hinab. Der ganze Stil des Lebens einer Gemeinschaft hängt
von dem Verhältnis ab, in dem die objektiv gewordne Kultur zu der
Kultur der Subjekte steht. Auf die Bedeutung der numerischen Be-
stimmtheiten habe ich schon hingedeutet. In einem kleinen Kreise von
niedriger Kultur wird jenes Verhältnis nahezu eines der Deckung sein,
die objektiven Kulturmöglichkeiten werden die subjektiven Kulturwirk-
lichkeiten nicht weit überragen. Eine Steigerung des Kulturniveaus
— insbesondere wenn es mit einer Vergröſserung des Kreises gleichzeitig
ist — wird das Auseinanderfallen beider begünstigen: es war die
unvergleichliche Situation Athens in seiner Blütezeit, daſs es bei all

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[483/0507] der Menschen — sich von seinem Inhalt trennen kann; dieser Inhalt nimmt, in jene Kategorie tretend, gleichsam einen anderen Aggregat- zustand an, und damit ist die prinzipielle Grundlage für die Erschei- nung geschaffen, die uns als gesonderte Entwicklung der sachlichen und der personalen Kultur entgegentrat. Mit der Vergegenständlichung des Geistes ist die Form gewonnen, die ein Konservieren und Auf- häufen der Bewuſstseinsarbeit gestattet; sie ist die bedeutsamste und folgenreichste unter den historischen Kategorien der Menschheit. Denn sie macht zur geschichtlichen Thatsache, was als biologische so zweifel- haft ist: die Vererbung des Erworbenen. Wenn man es als den Vorzug des Menschen den Tieren gegenüber bezeichnet hat, daſs er Erbe und nicht bloſs Nachkomme wäre, so ist die Vergegenständlichung des Geistes in Worten und Werken, Organisationen und Traditionen der Träger dieser Unterscheidung, die dem Menschen erst seine Welt, ja: eine Welt schenkt. Ist dieser objektive Geist der geschichtlichen Gesellschaft nun ihr Kulturinhalt im weitesten Sinne, so miſst sich die praktische Kultur- bedeutung seiner einzelnen Bestandteile dennoch an dem Umfang, in dem sie zu Entwicklungsmomenten der Individuen werden. Denn an- genommen, jene Entdeckung Newtons stünde nur in einem Buch, von dem niemand weiſs, so wäre sie zwar immer noch objektiv gewordener Geist und ein potenzieller Besitz der Gesellschaft, aber kein Kulturwert mehr. Da dieser extreme Fall in unzähligen Abstufungen auftreten kann, so ergiebt sich unmittelbar, daſs in einer gröſseren Gesellschaft immer nur ein gewisser Teil der objektiven Kulturwerte zu subjektiven werden wird. Betrachtet man die Gesellschaft als ein Ganzes, d. h. ordnet man die in ihr überhaupt objektiv werdende Geistigkeit in einen zeitlich-sachlichen Komplex, so ist die gesamte Kulturentwick- lung, für die man so einen einheitlichen Träger fingiert hat, reicher an Inhalten, als die jedes ihrer Elemente. Denn die Leistung jedes Elementes steigt in jenen Gesamtbesitz auf, aber dieser nicht zu jedem Element hinab. Der ganze Stil des Lebens einer Gemeinschaft hängt von dem Verhältnis ab, in dem die objektiv gewordne Kultur zu der Kultur der Subjekte steht. Auf die Bedeutung der numerischen Be- stimmtheiten habe ich schon hingedeutet. In einem kleinen Kreise von niedriger Kultur wird jenes Verhältnis nahezu eines der Deckung sein, die objektiven Kulturmöglichkeiten werden die subjektiven Kulturwirk- lichkeiten nicht weit überragen. Eine Steigerung des Kulturniveaus — insbesondere wenn es mit einer Vergröſserung des Kreises gleichzeitig ist — wird das Auseinanderfallen beider begünstigen: es war die unvergleichliche Situation Athens in seiner Blütezeit, daſs es bei all 31*

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/507>, abgerufen am 22.11.2024.