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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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über, so dass eben diese Formen einerseits und unser Subjekt andrer-
seits wie zwei Parteien sind, zwischen denen ein rein zufälliges Ver-
hältnis von Berührungen, Harmonien und Disharmonien herrscht.

Dies ist also ungefähr der Umkreis, in dem Arbeitsteilung und
Spezialisation, persönlichen wie sachlichen Sinnes, den grossen Ob-
jektivationsprozess der modernsten Kultur tragen. Aus all diesen Er-
scheinungen setzt sich das Gesamtbild zusammen, in dem der Kultur-
inhalt immer mehr und immer gewusster objektiver Geist wird,
gegenüber nicht nur denen, die ihn aufnehmen, sondern auch denen, die
ihn produzieren. In dem Mass, in dem diese Objektivation vorschreitet,
wird die wunderliche Erscheinung begreiflicher, von der wir aus-
gingen: dass die kulturelle Steigerung der Individuen hinter der der
Dinge -- greifbarer wie funktioneller wie geistiger -- merkbar zurück-
bleiben kann.

Dass gelegentlich auch das Umgekehrte stattfindet, beweist die
gleiche gegenseitige Verselbständigung beider Formen des Geistes. In
etwas versteckter und umgebildeter Art liegt dies etwa in folgender
Erscheinung. Die bäuerliche Wirtschaft scheint in Norddeutschland
nur bei einer Art Anerbenrecht auf die Dauer erhaltbar, d. h. nur
dann, wenn einer der Erben den Hof übernimmt und die Miterben
mit geringeren Quoten abfindet, als sie nach dem Verkaufswert des-
selben bekommen würden. Bei der Berechnung nach dem letzteren --
der momentan den Ertragswert weit übersteigt -- wird der Hof bei
der Abfindung derart mit Hypotheken überlastet, dass nur ein ganz
minderwertiger Betrieb möglich bleibt. Dennoch fordert das moderne,
individualistische Rechtsbewusstsein diese mechanische, geldmässige
Gleichberechtigung aller Erben und giebt nicht einem einzelnen Kinde
den Vorteil, der doch zugleich die Bedingung für den objektiv voll-
kommenen Betrieb wäre. Zweifellos sind hierdurch oft Kultur-
erhöhungen einzelner Subjekte erreicht worden, um den Preis, dass die
Kultur des Objekts relativ zurückgeblieben ist. Mit grosser Entschiedenheit
tritt eine derartige Diskrepanz an eigentlichen sozialen Institutionen auf,
deren Evolution ein schwerfälligeres und konservativeres Tempo zeigt,
als die der Individuen. Unter dieses Schema gehören die Fälle, die
dahin zusammengefasst worden sind, dass die Produktionsverhältnisse,
nachdem sie eine bestimmte Epoche über bestanden haben, von den
Produktionskräften, die sie selbst entwickelten, überflügelt werden, so
dass sie den letzteren keinen adäquaten Ausdruck und Verwendung
mehr gestatten. Diese Kräfte sind zum grossen Teil personalen
Wesens: was die Persönlichkeiten zu leisten fähig oder zu wollen
berechtigt sind, findet keinen Platz mehr in den objektiven Formen

über, so daſs eben diese Formen einerseits und unser Subjekt andrer-
seits wie zwei Parteien sind, zwischen denen ein rein zufälliges Ver-
hältnis von Berührungen, Harmonien und Disharmonien herrscht.

Dies ist also ungefähr der Umkreis, in dem Arbeitsteilung und
Spezialisation, persönlichen wie sachlichen Sinnes, den groſsen Ob-
jektivationsprozeſs der modernsten Kultur tragen. Aus all diesen Er-
scheinungen setzt sich das Gesamtbild zusammen, in dem der Kultur-
inhalt immer mehr und immer gewuſster objektiver Geist wird,
gegenüber nicht nur denen, die ihn aufnehmen, sondern auch denen, die
ihn produzieren. In dem Maſs, in dem diese Objektivation vorschreitet,
wird die wunderliche Erscheinung begreiflicher, von der wir aus-
gingen: daſs die kulturelle Steigerung der Individuen hinter der der
Dinge — greifbarer wie funktioneller wie geistiger — merkbar zurück-
bleiben kann.

Daſs gelegentlich auch das Umgekehrte stattfindet, beweist die
gleiche gegenseitige Verselbständigung beider Formen des Geistes. In
etwas versteckter und umgebildeter Art liegt dies etwa in folgender
Erscheinung. Die bäuerliche Wirtschaft scheint in Norddeutschland
nur bei einer Art Anerbenrecht auf die Dauer erhaltbar, d. h. nur
dann, wenn einer der Erben den Hof übernimmt und die Miterben
mit geringeren Quoten abfindet, als sie nach dem Verkaufswert des-
selben bekommen würden. Bei der Berechnung nach dem letzteren —
der momentan den Ertragswert weit übersteigt — wird der Hof bei
der Abfindung derart mit Hypotheken überlastet, daſs nur ein ganz
minderwertiger Betrieb möglich bleibt. Dennoch fordert das moderne,
individualistische Rechtsbewuſstsein diese mechanische, geldmäſsige
Gleichberechtigung aller Erben und giebt nicht einem einzelnen Kinde
den Vorteil, der doch zugleich die Bedingung für den objektiv voll-
kommenen Betrieb wäre. Zweifellos sind hierdurch oft Kultur-
erhöhungen einzelner Subjekte erreicht worden, um den Preis, daſs die
Kultur des Objekts relativ zurückgeblieben ist. Mit groſser Entschiedenheit
tritt eine derartige Diskrepanz an eigentlichen sozialen Institutionen auf,
deren Evolution ein schwerfälligeres und konservativeres Tempo zeigt,
als die der Individuen. Unter dieses Schema gehören die Fälle, die
dahin zusammengefaſst worden sind, daſs die Produktionsverhältnisse,
nachdem sie eine bestimmte Epoche über bestanden haben, von den
Produktionskräften, die sie selbst entwickelten, überflügelt werden, so
daſs sie den letzteren keinen adäquaten Ausdruck und Verwendung
mehr gestatten. Diese Kräfte sind zum groſsen Teil personalen
Wesens: was die Persönlichkeiten zu leisten fähig oder zu wollen
berechtigt sind, findet keinen Platz mehr in den objektiven Formen

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[496/0520] über, so daſs eben diese Formen einerseits und unser Subjekt andrer- seits wie zwei Parteien sind, zwischen denen ein rein zufälliges Ver- hältnis von Berührungen, Harmonien und Disharmonien herrscht. Dies ist also ungefähr der Umkreis, in dem Arbeitsteilung und Spezialisation, persönlichen wie sachlichen Sinnes, den groſsen Ob- jektivationsprozeſs der modernsten Kultur tragen. Aus all diesen Er- scheinungen setzt sich das Gesamtbild zusammen, in dem der Kultur- inhalt immer mehr und immer gewuſster objektiver Geist wird, gegenüber nicht nur denen, die ihn aufnehmen, sondern auch denen, die ihn produzieren. In dem Maſs, in dem diese Objektivation vorschreitet, wird die wunderliche Erscheinung begreiflicher, von der wir aus- gingen: daſs die kulturelle Steigerung der Individuen hinter der der Dinge — greifbarer wie funktioneller wie geistiger — merkbar zurück- bleiben kann. Daſs gelegentlich auch das Umgekehrte stattfindet, beweist die gleiche gegenseitige Verselbständigung beider Formen des Geistes. In etwas versteckter und umgebildeter Art liegt dies etwa in folgender Erscheinung. Die bäuerliche Wirtschaft scheint in Norddeutschland nur bei einer Art Anerbenrecht auf die Dauer erhaltbar, d. h. nur dann, wenn einer der Erben den Hof übernimmt und die Miterben mit geringeren Quoten abfindet, als sie nach dem Verkaufswert des- selben bekommen würden. Bei der Berechnung nach dem letzteren — der momentan den Ertragswert weit übersteigt — wird der Hof bei der Abfindung derart mit Hypotheken überlastet, daſs nur ein ganz minderwertiger Betrieb möglich bleibt. Dennoch fordert das moderne, individualistische Rechtsbewuſstsein diese mechanische, geldmäſsige Gleichberechtigung aller Erben und giebt nicht einem einzelnen Kinde den Vorteil, der doch zugleich die Bedingung für den objektiv voll- kommenen Betrieb wäre. Zweifellos sind hierdurch oft Kultur- erhöhungen einzelner Subjekte erreicht worden, um den Preis, daſs die Kultur des Objekts relativ zurückgeblieben ist. Mit groſser Entschiedenheit tritt eine derartige Diskrepanz an eigentlichen sozialen Institutionen auf, deren Evolution ein schwerfälligeres und konservativeres Tempo zeigt, als die der Individuen. Unter dieses Schema gehören die Fälle, die dahin zusammengefaſst worden sind, daſs die Produktionsverhältnisse, nachdem sie eine bestimmte Epoche über bestanden haben, von den Produktionskräften, die sie selbst entwickelten, überflügelt werden, so daſs sie den letzteren keinen adäquaten Ausdruck und Verwendung mehr gestatten. Diese Kräfte sind zum groſsen Teil personalen Wesens: was die Persönlichkeiten zu leisten fähig oder zu wollen berechtigt sind, findet keinen Platz mehr in den objektiven Formen

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/520>, abgerufen am 22.11.2024.