miert, wenn sie zu der Vorstellung und dem Genuss konkreter Wirk- lichkeiten führt -- die aber eben weit entfernte, nur ganz mittelbar zu fühlende sind. Daher nun auch der jetzt so lebhaft empfundene Reiz des Fragmentes, der blossen Andeutung, des Aphorismus, des Symbols, der unentwickelten Kunststile. Alle diese Formen, die in allen Künsten heimisch sind, stellen uns in eine Distanz von dem Ganzen und Vollen der Dinge, sie sprechen zu uns "wie aus der Ferne", die Wirklichkeit giebt sich in ihnen nicht mit gerader Sicher- heit, sondern mit gleich zurückgezogenen Fingerspitzen. Das äusserste Raffinement unseres litterarischen Stiles vermeidet die direkte Bezeich- nung der Objekte, streift mit dem Worte nur eine abgelegene Ecke ihrer, fasst statt der Dinge nur die Schleier, die um die Dinge sind. Am entschiedensten beweisen wohl die symbolistischen Neigungen in bilden- den und redenden Künsten eben dieses. Hier wird die Distanz, die die Kunst schon als solche zwischen uns und die Dinge stellt, noch um eine Station erweitert, indem die Vorstellungen, die den Inhalt des schliesslich zu erregenden Seelenvorganges bilden, in dem Kunstwerke selbst über- haupt kein sinnliches Gegenbild mehr haben, sondern erst durch Wahr- nehmbarkeiten ganz anderen Inhaltes zum Anklingen gebracht werden. In alledem zeigt sich ein Zug des Empfindens wirksam, dessen patho- logische Ausartung die sogenannte "Berührungsangst" ist: die Furcht, in allzu nahe Berührung mit den Objekten zu kommen, ein Resultat der Hyperästhesie, der jede unmittelbare und energische Berührung ein Schmerz ist. Daher äussert sich auch die Feinsinnigkeit, Geistig- keit, differenzierte Empfindlichkeit so überwiegend vieler moderner Menschen im negativen Geschmack, d. h. in der leichten Verletzbar- keit durch Nicht-Zusagendes, in dem bestimmten Ausschliessen des Unsympathischen, in der Repulsion durch Vieles, ja oft durch das Meiste des gebotenen Kreises von Reizen, während der positive Ge- schmack, das energische Ja-Sagen, das freudige und rückhaltlose Er- greifen des Gefallenden, kurz die aktiv aneignenden Energien grosse Fehlbeträge aufweisen.
Es erstreckt sich aber jene innere Tendenz, die wir unter dem Symbol der Distanz betrachten, weit über das ästhetische Gebiet hinaus. So muss der philosophische Materialismus, der die Wirklichkeit unmittel- bar zu fassen glaubte, auch heute wieder vor subjektivistischen oder neu-kantischen Theorien zurückweichen, die die Dinge erst durch das Medium der Seele brechen oder destillieren lassen, ehe sie sie zu Er- kenntnissen werden lassen. Der Subjektivismus der neueren Zeit hat dasselbe Grundmotiv, von dem uns die Kunst getragen schien: ein innigeres und wahreres Verhältnis zu den Dingen dadurch zu ge-
miert, wenn sie zu der Vorstellung und dem Genuſs konkreter Wirk- lichkeiten führt — die aber eben weit entfernte, nur ganz mittelbar zu fühlende sind. Daher nun auch der jetzt so lebhaft empfundene Reiz des Fragmentes, der bloſsen Andeutung, des Aphorismus, des Symbols, der unentwickelten Kunststile. Alle diese Formen, die in allen Künsten heimisch sind, stellen uns in eine Distanz von dem Ganzen und Vollen der Dinge, sie sprechen zu uns „wie aus der Ferne“, die Wirklichkeit giebt sich in ihnen nicht mit gerader Sicher- heit, sondern mit gleich zurückgezogenen Fingerspitzen. Das äuſserste Raffinement unseres litterarischen Stiles vermeidet die direkte Bezeich- nung der Objekte, streift mit dem Worte nur eine abgelegene Ecke ihrer, faſst statt der Dinge nur die Schleier, die um die Dinge sind. Am entschiedensten beweisen wohl die symbolistischen Neigungen in bilden- den und redenden Künsten eben dieses. Hier wird die Distanz, die die Kunst schon als solche zwischen uns und die Dinge stellt, noch um eine Station erweitert, indem die Vorstellungen, die den Inhalt des schlieſslich zu erregenden Seelenvorganges bilden, in dem Kunstwerke selbst über- haupt kein sinnliches Gegenbild mehr haben, sondern erst durch Wahr- nehmbarkeiten ganz anderen Inhaltes zum Anklingen gebracht werden. In alledem zeigt sich ein Zug des Empfindens wirksam, dessen patho- logische Ausartung die sogenannte „Berührungsangst“ ist: die Furcht, in allzu nahe Berührung mit den Objekten zu kommen, ein Resultat der Hyperästhesie, der jede unmittelbare und energische Berührung ein Schmerz ist. Daher äuſsert sich auch die Feinsinnigkeit, Geistig- keit, differenzierte Empfindlichkeit so überwiegend vieler moderner Menschen im negativen Geschmack, d. h. in der leichten Verletzbar- keit durch Nicht-Zusagendes, in dem bestimmten Ausschlieſsen des Unsympathischen, in der Repulsion durch Vieles, ja oft durch das Meiste des gebotenen Kreises von Reizen, während der positive Ge- schmack, das energische Ja-Sagen, das freudige und rückhaltlose Er- greifen des Gefallenden, kurz die aktiv aneignenden Energien groſse Fehlbeträge aufweisen.
Es erstreckt sich aber jene innere Tendenz, die wir unter dem Symbol der Distanz betrachten, weit über das ästhetische Gebiet hinaus. So muſs der philosophische Materialismus, der die Wirklichkeit unmittel- bar zu fassen glaubte, auch heute wieder vor subjektivistischen oder neu-kantischen Theorien zurückweichen, die die Dinge erst durch das Medium der Seele brechen oder destillieren lassen, ehe sie sie zu Er- kenntnissen werden lassen. Der Subjektivismus der neueren Zeit hat dasselbe Grundmotiv, von dem uns die Kunst getragen schien: ein innigeres und wahreres Verhältnis zu den Dingen dadurch zu ge-
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[511/0535]
miert, wenn sie zu der Vorstellung und dem Genuſs konkreter Wirk-
lichkeiten führt — die aber eben weit entfernte, nur ganz mittelbar
zu fühlende sind. Daher nun auch der jetzt so lebhaft empfundene
Reiz des Fragmentes, der bloſsen Andeutung, des Aphorismus, des
Symbols, der unentwickelten Kunststile. Alle diese Formen, die in
allen Künsten heimisch sind, stellen uns in eine Distanz von dem
Ganzen und Vollen der Dinge, sie sprechen zu uns „wie aus der
Ferne“, die Wirklichkeit giebt sich in ihnen nicht mit gerader Sicher-
heit, sondern mit gleich zurückgezogenen Fingerspitzen. Das äuſserste
Raffinement unseres litterarischen Stiles vermeidet die direkte Bezeich-
nung der Objekte, streift mit dem Worte nur eine abgelegene Ecke
ihrer, faſst statt der Dinge nur die Schleier, die um die Dinge sind. Am
entschiedensten beweisen wohl die symbolistischen Neigungen in bilden-
den und redenden Künsten eben dieses. Hier wird die Distanz, die die
Kunst schon als solche zwischen uns und die Dinge stellt, noch um eine
Station erweitert, indem die Vorstellungen, die den Inhalt des schlieſslich
zu erregenden Seelenvorganges bilden, in dem Kunstwerke selbst über-
haupt kein sinnliches Gegenbild mehr haben, sondern erst durch Wahr-
nehmbarkeiten ganz anderen Inhaltes zum Anklingen gebracht werden.
In alledem zeigt sich ein Zug des Empfindens wirksam, dessen patho-
logische Ausartung die sogenannte „Berührungsangst“ ist: die Furcht,
in allzu nahe Berührung mit den Objekten zu kommen, ein Resultat
der Hyperästhesie, der jede unmittelbare und energische Berührung
ein Schmerz ist. Daher äuſsert sich auch die Feinsinnigkeit, Geistig-
keit, differenzierte Empfindlichkeit so überwiegend vieler moderner
Menschen im negativen Geschmack, d. h. in der leichten Verletzbar-
keit durch Nicht-Zusagendes, in dem bestimmten Ausschlieſsen des
Unsympathischen, in der Repulsion durch Vieles, ja oft durch das
Meiste des gebotenen Kreises von Reizen, während der positive Ge-
schmack, das energische Ja-Sagen, das freudige und rückhaltlose Er-
greifen des Gefallenden, kurz die aktiv aneignenden Energien groſse
Fehlbeträge aufweisen.
Es erstreckt sich aber jene innere Tendenz, die wir unter dem
Symbol der Distanz betrachten, weit über das ästhetische Gebiet hinaus.
So muſs der philosophische Materialismus, der die Wirklichkeit unmittel-
bar zu fassen glaubte, auch heute wieder vor subjektivistischen oder
neu-kantischen Theorien zurückweichen, die die Dinge erst durch das
Medium der Seele brechen oder destillieren lassen, ehe sie sie zu Er-
kenntnissen werden lassen. Der Subjektivismus der neueren Zeit hat
dasselbe Grundmotiv, von dem uns die Kunst getragen schien: ein
innigeres und wahreres Verhältnis zu den Dingen dadurch zu ge-
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/535>, abgerufen am 22.11.2024.
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