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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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eine Macht im Leben, neben seinen andern Interessen und oft gegen
sie, einer der Faktoren, deren Gesamtheit das Leben ausmacht, und
andrerseits die Einheit und der Träger des ganzen Daseins selbst
-- einerseits ein Glied des Lebensorganismus, andrerseits diesem gegen-
überstehend, indem sie ihn in der Selbstgenugsamkeit ihrer Höhe
und Innerlichkeit ausdrückt. -- --

Ich komme nun zu einer zweiten Stilbestimmtheit des Lebens,
die nicht, wie die Distanzierung, durch eine räumliche, sondern durch
eine zeitliche Analogie bezeichnet wird; und zwar, da die Zeit inneres
und äusseres Geschehen gleichmässig umfasst, wird die Wirklichkeit
damit unmittelbarer und mit geringerer Inanspruchnahme der Symbolik
als in dem früheren Falle charakterisiert. Es handelt sich um den
Rhythmus, in dem die Lebensinhalte auftreten und zurücktreten, um
die Frage, inwieweit die verschiedenen Kulturepochen überhaupt die
Rhythmik in dem Abrollen derselben begünstigen oder zerstören, und
ob das Geld nicht nur in seinen eigenen Bewegungen daran teil hat,
sondern auch jenes Herrschen oder Sinken der Periodik des Lebens
von sich aus beeinflusst. Zunächst begegnen eine Reihe von Erschei-
nungen, die in früheren Entwicklungsstadien rhythmisch, in späteren
aber kontinuierlich oder unregelmässig verlaufen. Vielleicht die auf-
fallendste: der Mensch hat keine bestimmte Paarungszeit mehr, wie
sie fast bei allen Tieren besteht, bei denen sich sexuelle Erregtheit
und Gleichgültigkeit scharf gegeneinander absetzen; unkultivierte
Völker weisen mindestens noch Reste dieser Periodik auf. Die Ver-
schiedenheit in der Brunstzeit der Tiere hängt wesentlich daran, dass
die Geburten zu derjenigen Jahreszeit erfolgen müssen, in der Nahrungs-
und klimatische Verhältnisse für das Aufbringen der Jungen am gün-
stigsten sind; thatsächlich werden auch bei einigen der sehr rohen Austral-
neger, die keine Haustiere haben und deshalb regelmässigen Hungers-
nöten unterliegen, nur zu einer bestimmten Zeit des Jahres Kinder
geboren. Der Kulturmensch hat sich durch seine Verfügung über
Nahrung und Wetterschutz hiervon unabhängig gemacht, so dass er in
dieser Hinsicht seinen individuellen Impulsen und nicht mehr allgemein,
also notwendig rhythmisch, bestimmten, folgt: die oben genannten Gegen-
sätze der Sexualität sind bei ihm in ein mehr oder weniger fluktuierendes
Kontinuum übergegangen. Immerhin ist festgestellt, dass die noch beobacht-
bare Periodizität des Geburten-Maximums und -Minimums in wesent-
lich Ackerbau treibenden Gegenden entschiedener ist als in indust-
riellen, auf dem Lande entschiedener als in Städten. Weiter: das
Kind unterliegt einem unbezwinglichen Rhythmus von Schlafen und
Wachen, von Bethätigungslust und Abgespanntheit, und annähernd ist

eine Macht im Leben, neben seinen andern Interessen und oft gegen
sie, einer der Faktoren, deren Gesamtheit das Leben ausmacht, und
andrerseits die Einheit und der Träger des ganzen Daseins selbst
— einerseits ein Glied des Lebensorganismus, andrerseits diesem gegen-
überstehend, indem sie ihn in der Selbstgenugsamkeit ihrer Höhe
und Innerlichkeit ausdrückt. — —

Ich komme nun zu einer zweiten Stilbestimmtheit des Lebens,
die nicht, wie die Distanzierung, durch eine räumliche, sondern durch
eine zeitliche Analogie bezeichnet wird; und zwar, da die Zeit inneres
und äuſseres Geschehen gleichmäſsig umfaſst, wird die Wirklichkeit
damit unmittelbarer und mit geringerer Inanspruchnahme der Symbolik
als in dem früheren Falle charakterisiert. Es handelt sich um den
Rhythmus, in dem die Lebensinhalte auftreten und zurücktreten, um
die Frage, inwieweit die verschiedenen Kulturepochen überhaupt die
Rhythmik in dem Abrollen derselben begünstigen oder zerstören, und
ob das Geld nicht nur in seinen eigenen Bewegungen daran teil hat,
sondern auch jenes Herrschen oder Sinken der Periodik des Lebens
von sich aus beeinfluſst. Zunächst begegnen eine Reihe von Erschei-
nungen, die in früheren Entwicklungsstadien rhythmisch, in späteren
aber kontinuierlich oder unregelmäſsig verlaufen. Vielleicht die auf-
fallendste: der Mensch hat keine bestimmte Paarungszeit mehr, wie
sie fast bei allen Tieren besteht, bei denen sich sexuelle Erregtheit
und Gleichgültigkeit scharf gegeneinander absetzen; unkultivierte
Völker weisen mindestens noch Reste dieser Periodik auf. Die Ver-
schiedenheit in der Brunstzeit der Tiere hängt wesentlich daran, daſs
die Geburten zu derjenigen Jahreszeit erfolgen müssen, in der Nahrungs-
und klimatische Verhältnisse für das Aufbringen der Jungen am gün-
stigsten sind; thatsächlich werden auch bei einigen der sehr rohen Austral-
neger, die keine Haustiere haben und deshalb regelmäſsigen Hungers-
nöten unterliegen, nur zu einer bestimmten Zeit des Jahres Kinder
geboren. Der Kulturmensch hat sich durch seine Verfügung über
Nahrung und Wetterschutz hiervon unabhängig gemacht, so daſs er in
dieser Hinsicht seinen individuellen Impulsen und nicht mehr allgemein,
also notwendig rhythmisch, bestimmten, folgt: die oben genannten Gegen-
sätze der Sexualität sind bei ihm in ein mehr oder weniger fluktuierendes
Kontinuum übergegangen. Immerhin ist festgestellt, daſs die noch beobacht-
bare Periodizität des Geburten-Maximums und -Minimums in wesent-
lich Ackerbau treibenden Gegenden entschiedener ist als in indust-
riellen, auf dem Lande entschiedener als in Städten. Weiter: das
Kind unterliegt einem unbezwinglichen Rhythmus von Schlafen und
Wachen, von Bethätigungslust und Abgespanntheit, und annähernd ist

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[524/0548] eine Macht im Leben, neben seinen andern Interessen und oft gegen sie, einer der Faktoren, deren Gesamtheit das Leben ausmacht, und andrerseits die Einheit und der Träger des ganzen Daseins selbst — einerseits ein Glied des Lebensorganismus, andrerseits diesem gegen- überstehend, indem sie ihn in der Selbstgenugsamkeit ihrer Höhe und Innerlichkeit ausdrückt. — — Ich komme nun zu einer zweiten Stilbestimmtheit des Lebens, die nicht, wie die Distanzierung, durch eine räumliche, sondern durch eine zeitliche Analogie bezeichnet wird; und zwar, da die Zeit inneres und äuſseres Geschehen gleichmäſsig umfaſst, wird die Wirklichkeit damit unmittelbarer und mit geringerer Inanspruchnahme der Symbolik als in dem früheren Falle charakterisiert. Es handelt sich um den Rhythmus, in dem die Lebensinhalte auftreten und zurücktreten, um die Frage, inwieweit die verschiedenen Kulturepochen überhaupt die Rhythmik in dem Abrollen derselben begünstigen oder zerstören, und ob das Geld nicht nur in seinen eigenen Bewegungen daran teil hat, sondern auch jenes Herrschen oder Sinken der Periodik des Lebens von sich aus beeinfluſst. Zunächst begegnen eine Reihe von Erschei- nungen, die in früheren Entwicklungsstadien rhythmisch, in späteren aber kontinuierlich oder unregelmäſsig verlaufen. Vielleicht die auf- fallendste: der Mensch hat keine bestimmte Paarungszeit mehr, wie sie fast bei allen Tieren besteht, bei denen sich sexuelle Erregtheit und Gleichgültigkeit scharf gegeneinander absetzen; unkultivierte Völker weisen mindestens noch Reste dieser Periodik auf. Die Ver- schiedenheit in der Brunstzeit der Tiere hängt wesentlich daran, daſs die Geburten zu derjenigen Jahreszeit erfolgen müssen, in der Nahrungs- und klimatische Verhältnisse für das Aufbringen der Jungen am gün- stigsten sind; thatsächlich werden auch bei einigen der sehr rohen Austral- neger, die keine Haustiere haben und deshalb regelmäſsigen Hungers- nöten unterliegen, nur zu einer bestimmten Zeit des Jahres Kinder geboren. Der Kulturmensch hat sich durch seine Verfügung über Nahrung und Wetterschutz hiervon unabhängig gemacht, so daſs er in dieser Hinsicht seinen individuellen Impulsen und nicht mehr allgemein, also notwendig rhythmisch, bestimmten, folgt: die oben genannten Gegen- sätze der Sexualität sind bei ihm in ein mehr oder weniger fluktuierendes Kontinuum übergegangen. Immerhin ist festgestellt, daſs die noch beobacht- bare Periodizität des Geburten-Maximums und -Minimums in wesent- lich Ackerbau treibenden Gegenden entschiedener ist als in indust- riellen, auf dem Lande entschiedener als in Städten. Weiter: das Kind unterliegt einem unbezwinglichen Rhythmus von Schlafen und Wachen, von Bethätigungslust und Abgespanntheit, und annähernd ist

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/548>, abgerufen am 22.11.2024.