und in der Rücksicht auf ein anderes und auf ein gemeinsames Zentrum seine Stellung, sein Recht, seinen Sinn erhält; wogegen, sobald jedes Element nur sich selbst gehorcht und sich nur um seiner selbst willen und aus sich selbst entwickelt, das Ganze unvermeidlich unsymmetrisch und zufällig ausfallen wird. Grade angesichts seines ästhetischen Re- flexes zeigt dieser Widerstreit sich als das grundlegende Motiv aller Prozesse, die zwischen einem sozialen Ganzen -- politischer, religiöser, familiärer, wirtschaftlicher, geselliger und sonstiger Art -- und seinen Individuen spielen. Das Individuum begehrt, ein geschlossenes Ganzes zu sein, eine Gestaltung mit eignem Zentrum, von dem aus alle Ele- mente seines Seins und Thuns einen einheitlichen, auf einander be- züglichen Sinn erhalten. Soll dagegen das überindividuelle Ganze in sich abgerundet sein, soll es mit selbstgenugsamer Bedeutsamkeit eine eigne objektive Idee verwirklichen -- so kann es jene Abrundung seiner Glieder nicht zulassen: man kann keinen Baum aus Bäumen erwachsen lassen, sondern nur aus Zellen, kein Gemälde aus Gemälden, sondern aus Pinselstrichen, deren keiner für sich Fertigkeit, Eigenleben, ästhetischen Sinn besitzt. Die Totalität des Ganzen -- so sehr sie nur in gewissen Aktionen Einzelner, ja vielleicht innerhalb jedes Einzelnen praktische Wirklichkeit gewinnt -- steht in einem ewigen Kampfe gegen die Totalität des Individuums. Das ästhetische Bild desselben ist deshalb so besonders nachdrücklich, weil sich grade der Reiz der Schönheit immer nur an ein Ganzes knüpft -- habe es unmittelbare, habe es durch Phantasie ergänzte Anschaulichkeit, wie das Fragment; es ist der ganze Sinn der Kunst, aus dem zufälligen Bruchstück der Wirk- lichkeit, dessen Unselbständigkeit durch tausend Fäden mit dieser ver- bunden ist, eine in sich ruhende Totalität, einen jedes Ausserhalb- seiner unbedürftigen Mikrokosmos zu gestalten. Der typische Konflikt zwischen dem Individuum und dem überindividuellen Sein ist darstell- bar als das unvereinbare Streben beider, zu einem ästhetisch be- friedigenden Bilde zu werden.
Das Geld scheint zunächst nur der Ausprägung einer dieser Gegensatzformen zu dienen. Denn es selbst ist absolut formlos, es enthält in sich nicht den geringsten Hinweis auf eine regelmässige Hebung und Senkung der Lebensinhalte, es bietet sich jeden Augen- blick mit der gleichen Frische und Wirksamkeit dar, es nivelliert durch seine Fernwirkungen wie durch seine Reduktion der Dinge auf ein und dasselbe Wertmass unzählige Schwankungen, gegenseitige Ab- lösungen von Distanz und Annäherung, Hebung und Senkung, die dem Individuum sonst allgemeingültige Abwechslungen in seinen Be- thätigungs- und Empfindungsmöglichkeiten auferlegten. Es ist sehr be-
und in der Rücksicht auf ein anderes und auf ein gemeinsames Zentrum seine Stellung, sein Recht, seinen Sinn erhält; wogegen, sobald jedes Element nur sich selbst gehorcht und sich nur um seiner selbst willen und aus sich selbst entwickelt, das Ganze unvermeidlich unsymmetrisch und zufällig ausfallen wird. Grade angesichts seines ästhetischen Re- flexes zeigt dieser Widerstreit sich als das grundlegende Motiv aller Prozesse, die zwischen einem sozialen Ganzen — politischer, religiöser, familiärer, wirtschaftlicher, geselliger und sonstiger Art — und seinen Individuen spielen. Das Individuum begehrt, ein geschlossenes Ganzes zu sein, eine Gestaltung mit eignem Zentrum, von dem aus alle Ele- mente seines Seins und Thuns einen einheitlichen, auf einander be- züglichen Sinn erhalten. Soll dagegen das überindividuelle Ganze in sich abgerundet sein, soll es mit selbstgenugsamer Bedeutsamkeit eine eigne objektive Idee verwirklichen — so kann es jene Abrundung seiner Glieder nicht zulassen: man kann keinen Baum aus Bäumen erwachsen lassen, sondern nur aus Zellen, kein Gemälde aus Gemälden, sondern aus Pinselstrichen, deren keiner für sich Fertigkeit, Eigenleben, ästhetischen Sinn besitzt. Die Totalität des Ganzen — so sehr sie nur in gewissen Aktionen Einzelner, ja vielleicht innerhalb jedes Einzelnen praktische Wirklichkeit gewinnt — steht in einem ewigen Kampfe gegen die Totalität des Individuums. Das ästhetische Bild desselben ist deshalb so besonders nachdrücklich, weil sich grade der Reiz der Schönheit immer nur an ein Ganzes knüpft — habe es unmittelbare, habe es durch Phantasie ergänzte Anschaulichkeit, wie das Fragment; es ist der ganze Sinn der Kunst, aus dem zufälligen Bruchstück der Wirk- lichkeit, dessen Unselbständigkeit durch tausend Fäden mit dieser ver- bunden ist, eine in sich ruhende Totalität, einen jedes Auſserhalb- seiner unbedürftigen Mikrokosmos zu gestalten. Der typische Konflikt zwischen dem Individuum und dem überindividuellen Sein ist darstell- bar als das unvereinbare Streben beider, zu einem ästhetisch be- friedigenden Bilde zu werden.
Das Geld scheint zunächst nur der Ausprägung einer dieser Gegensatzformen zu dienen. Denn es selbst ist absolut formlos, es enthält in sich nicht den geringsten Hinweis auf eine regelmäſsige Hebung und Senkung der Lebensinhalte, es bietet sich jeden Augen- blick mit der gleichen Frische und Wirksamkeit dar, es nivelliert durch seine Fernwirkungen wie durch seine Reduktion der Dinge auf ein und dasselbe Wertmaſs unzählige Schwankungen, gegenseitige Ab- lösungen von Distanz und Annäherung, Hebung und Senkung, die dem Individuum sonst allgemeingültige Abwechslungen in seinen Be- thätigungs- und Empfindungsmöglichkeiten auferlegten. Es ist sehr be-
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[534/0558]
und in der Rücksicht auf ein anderes und auf ein gemeinsames Zentrum
seine Stellung, sein Recht, seinen Sinn erhält; wogegen, sobald jedes
Element nur sich selbst gehorcht und sich nur um seiner selbst willen
und aus sich selbst entwickelt, das Ganze unvermeidlich unsymmetrisch
und zufällig ausfallen wird. Grade angesichts seines ästhetischen Re-
flexes zeigt dieser Widerstreit sich als das grundlegende Motiv aller
Prozesse, die zwischen einem sozialen Ganzen — politischer, religiöser,
familiärer, wirtschaftlicher, geselliger und sonstiger Art — und seinen
Individuen spielen. Das Individuum begehrt, ein geschlossenes Ganzes
zu sein, eine Gestaltung mit eignem Zentrum, von dem aus alle Ele-
mente seines Seins und Thuns einen einheitlichen, auf einander be-
züglichen Sinn erhalten. Soll dagegen das überindividuelle Ganze in sich
abgerundet sein, soll es mit selbstgenugsamer Bedeutsamkeit eine eigne
objektive Idee verwirklichen — so kann es jene Abrundung seiner
Glieder nicht zulassen: man kann keinen Baum aus Bäumen erwachsen
lassen, sondern nur aus Zellen, kein Gemälde aus Gemälden, sondern aus
Pinselstrichen, deren keiner für sich Fertigkeit, Eigenleben, ästhetischen
Sinn besitzt. Die Totalität des Ganzen — so sehr sie nur in gewissen
Aktionen Einzelner, ja vielleicht innerhalb jedes Einzelnen praktische
Wirklichkeit gewinnt — steht in einem ewigen Kampfe gegen die
Totalität des Individuums. Das ästhetische Bild desselben ist deshalb
so besonders nachdrücklich, weil sich grade der Reiz der Schönheit
immer nur an ein Ganzes knüpft — habe es unmittelbare, habe es
durch Phantasie ergänzte Anschaulichkeit, wie das Fragment; es ist
der ganze Sinn der Kunst, aus dem zufälligen Bruchstück der Wirk-
lichkeit, dessen Unselbständigkeit durch tausend Fäden mit dieser ver-
bunden ist, eine in sich ruhende Totalität, einen jedes Auſserhalb-
seiner unbedürftigen Mikrokosmos zu gestalten. Der typische Konflikt
zwischen dem Individuum und dem überindividuellen Sein ist darstell-
bar als das unvereinbare Streben beider, zu einem ästhetisch be-
friedigenden Bilde zu werden.
Das Geld scheint zunächst nur der Ausprägung einer dieser
Gegensatzformen zu dienen. Denn es selbst ist absolut formlos, es
enthält in sich nicht den geringsten Hinweis auf eine regelmäſsige
Hebung und Senkung der Lebensinhalte, es bietet sich jeden Augen-
blick mit der gleichen Frische und Wirksamkeit dar, es nivelliert
durch seine Fernwirkungen wie durch seine Reduktion der Dinge auf
ein und dasselbe Wertmaſs unzählige Schwankungen, gegenseitige Ab-
lösungen von Distanz und Annäherung, Hebung und Senkung, die
dem Individuum sonst allgemeingültige Abwechslungen in seinen Be-
thätigungs- und Empfindungsmöglichkeiten auferlegten. Es ist sehr be-
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/558>, abgerufen am 23.11.2024.
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