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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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Bedeutung haben dürfen. Dies ist nicht nur ein Punkt von der grössten
Wichtigkeit für die allgemeine Anschauung der Dinge, auf der sich
alles folgende aufbaut, sondern auch für viele Einzelheiten derselben
so vorbildlich, dass er der genaueren Erörterung bedarf.

Zweifellos kann die Wahrheit irgend eines Satzes nur auf Grund
von Kriterien erkannt werden, die von vornherein sicher, allgemein und
über das Einzelne hinübergreifend sind; diese Kriterien können auf
einzelne Gebiete beschränkt sein und ihrerseits ihre Legitimation aus
noch höher gelegenen ziehen; so dass eine Reihe von Erkenntnissen
übereinandergebaut ist, von denen jede nur unter der Bedingung einer
anderen gültig ist. Allein diese Reihe muss, um nicht in der Luft zu
schweben, ja eigentlich, um überhaupt möglich zu sein, irgendwo
einen letzten Grund haben, eine höchste Instanz, die allen folgenden
Gliedern ihre Legitimation giebt, ohne selbst einer solchen zu be-
dürfen. Dies ist das Schema, in das unser thatsächliches Erkennen sich
muss eingliedern lassen, und das alle Bedingtheiten und Relativitäten
dieses an ein nicht mehr bedingtes Wissen knüpft. Allein: welches
nun diese absolute Erkenntnis sei, können wir niemals wissen. Ihr
wirklicher Inhalt ist niemals mit derselben Sicherheit auszumachen,
die über ihre prinzipielle, sozusagen formale Existenz besteht, weil der
Prozess der Auflösung in höhere Prinzipien, der Versuch, das bisher
letzte doch noch weiter herzuleiten, niemals an seinem Ende anlangen
kann. Welchen Satz wir also auch als den letztbegründenden, über der
Bedingtheit aller anderen stehend ausgefunden hätten -- die Möglichkeit,
auch ihn als bloss relativ und durch einen höheren bedingt zu er-
kennen, bleibt bestehen; und diese Möglichkeit ist eine positive Auf-
forderung, da die Geschichte des Wissens sie unzählige Mal verwirk-
licht hat. Irgendwo freilich mag das Erkennen seine absolute Basis
haben, wo es sie aber hat, können wir nie unabänderlich feststellen, und
müssen daher, um das Denken nicht dogmatisch abzuschliessen, jeden
zuletzt erreichten Punkt so behandeln, als ob er der vorletzte wäre.

Das Ganze des Erkennens wird dadurch keineswegs skeptisch ge-
färbt, wie überhaupt das Missverständnis, Relativismus und Skeptizismus
zu verwechseln, ebenso grob ist wie das an Kant begangene, als man
seine Verwandlung von Raum und Zeit in Bedingungen unserer Er-
fahrung als Skeptizismus denunzierte. Man muss freilich beide Stand-
punkte so beurteilen, wenn man die je entgegengesetzten von vorn-
herein als das unbedingt richtige Bild des Wirklichen festhält, so dass jede
sie verneinende Theorie als Erschütterung "der Wirklichkeit" erscheint.
Wenn für jetzt zugegeben wird, dass unser Erkennen irgendwo eine
absolute Norm, eine nur durch sich selbst legitimierte letzte Instanz be-

Bedeutung haben dürfen. Dies ist nicht nur ein Punkt von der gröſsten
Wichtigkeit für die allgemeine Anschauung der Dinge, auf der sich
alles folgende aufbaut, sondern auch für viele Einzelheiten derselben
so vorbildlich, daſs er der genaueren Erörterung bedarf.

Zweifellos kann die Wahrheit irgend eines Satzes nur auf Grund
von Kriterien erkannt werden, die von vornherein sicher, allgemein und
über das Einzelne hinübergreifend sind; diese Kriterien können auf
einzelne Gebiete beschränkt sein und ihrerseits ihre Legitimation aus
noch höher gelegenen ziehen; so daſs eine Reihe von Erkenntnissen
übereinandergebaut ist, von denen jede nur unter der Bedingung einer
anderen gültig ist. Allein diese Reihe muſs, um nicht in der Luft zu
schweben, ja eigentlich, um überhaupt möglich zu sein, irgendwo
einen letzten Grund haben, eine höchste Instanz, die allen folgenden
Gliedern ihre Legitimation giebt, ohne selbst einer solchen zu be-
dürfen. Dies ist das Schema, in das unser thatsächliches Erkennen sich
muſs eingliedern lassen, und das alle Bedingtheiten und Relativitäten
dieses an ein nicht mehr bedingtes Wissen knüpft. Allein: welches
nun diese absolute Erkenntnis sei, können wir niemals wissen. Ihr
wirklicher Inhalt ist niemals mit derselben Sicherheit auszumachen,
die über ihre prinzipielle, sozusagen formale Existenz besteht, weil der
Prozeſs der Auflösung in höhere Prinzipien, der Versuch, das bisher
letzte doch noch weiter herzuleiten, niemals an seinem Ende anlangen
kann. Welchen Satz wir also auch als den letztbegründenden, über der
Bedingtheit aller anderen stehend ausgefunden hätten — die Möglichkeit,
auch ihn als bloſs relativ und durch einen höheren bedingt zu er-
kennen, bleibt bestehen; und diese Möglichkeit ist eine positive Auf-
forderung, da die Geschichte des Wissens sie unzählige Mal verwirk-
licht hat. Irgendwo freilich mag das Erkennen seine absolute Basis
haben, wo es sie aber hat, können wir nie unabänderlich feststellen, und
müssen daher, um das Denken nicht dogmatisch abzuschlieſsen, jeden
zuletzt erreichten Punkt so behandeln, als ob er der vorletzte wäre.

Das Ganze des Erkennens wird dadurch keineswegs skeptisch ge-
färbt, wie überhaupt das Miſsverständnis, Relativismus und Skeptizismus
zu verwechseln, ebenso grob ist wie das an Kant begangene, als man
seine Verwandlung von Raum und Zeit in Bedingungen unserer Er-
fahrung als Skeptizismus denunzierte. Man muſs freilich beide Stand-
punkte so beurteilen, wenn man die je entgegengesetzten von vorn-
herein als das unbedingt richtige Bild des Wirklichen festhält, so daſs jede
sie verneinende Theorie als Erschütterung „der Wirklichkeit“ erscheint.
Wenn für jetzt zugegeben wird, daſs unser Erkennen irgendwo eine
absolute Norm, eine nur durch sich selbst legitimierte letzte Instanz be-

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[61/0085] Bedeutung haben dürfen. Dies ist nicht nur ein Punkt von der gröſsten Wichtigkeit für die allgemeine Anschauung der Dinge, auf der sich alles folgende aufbaut, sondern auch für viele Einzelheiten derselben so vorbildlich, daſs er der genaueren Erörterung bedarf. Zweifellos kann die Wahrheit irgend eines Satzes nur auf Grund von Kriterien erkannt werden, die von vornherein sicher, allgemein und über das Einzelne hinübergreifend sind; diese Kriterien können auf einzelne Gebiete beschränkt sein und ihrerseits ihre Legitimation aus noch höher gelegenen ziehen; so daſs eine Reihe von Erkenntnissen übereinandergebaut ist, von denen jede nur unter der Bedingung einer anderen gültig ist. Allein diese Reihe muſs, um nicht in der Luft zu schweben, ja eigentlich, um überhaupt möglich zu sein, irgendwo einen letzten Grund haben, eine höchste Instanz, die allen folgenden Gliedern ihre Legitimation giebt, ohne selbst einer solchen zu be- dürfen. Dies ist das Schema, in das unser thatsächliches Erkennen sich muſs eingliedern lassen, und das alle Bedingtheiten und Relativitäten dieses an ein nicht mehr bedingtes Wissen knüpft. Allein: welches nun diese absolute Erkenntnis sei, können wir niemals wissen. Ihr wirklicher Inhalt ist niemals mit derselben Sicherheit auszumachen, die über ihre prinzipielle, sozusagen formale Existenz besteht, weil der Prozeſs der Auflösung in höhere Prinzipien, der Versuch, das bisher letzte doch noch weiter herzuleiten, niemals an seinem Ende anlangen kann. Welchen Satz wir also auch als den letztbegründenden, über der Bedingtheit aller anderen stehend ausgefunden hätten — die Möglichkeit, auch ihn als bloſs relativ und durch einen höheren bedingt zu er- kennen, bleibt bestehen; und diese Möglichkeit ist eine positive Auf- forderung, da die Geschichte des Wissens sie unzählige Mal verwirk- licht hat. Irgendwo freilich mag das Erkennen seine absolute Basis haben, wo es sie aber hat, können wir nie unabänderlich feststellen, und müssen daher, um das Denken nicht dogmatisch abzuschlieſsen, jeden zuletzt erreichten Punkt so behandeln, als ob er der vorletzte wäre. Das Ganze des Erkennens wird dadurch keineswegs skeptisch ge- färbt, wie überhaupt das Miſsverständnis, Relativismus und Skeptizismus zu verwechseln, ebenso grob ist wie das an Kant begangene, als man seine Verwandlung von Raum und Zeit in Bedingungen unserer Er- fahrung als Skeptizismus denunzierte. Man muſs freilich beide Stand- punkte so beurteilen, wenn man die je entgegengesetzten von vorn- herein als das unbedingt richtige Bild des Wirklichen festhält, so daſs jede sie verneinende Theorie als Erschütterung „der Wirklichkeit“ erscheint. Wenn für jetzt zugegeben wird, daſs unser Erkennen irgendwo eine absolute Norm, eine nur durch sich selbst legitimierte letzte Instanz be-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/85>, abgerufen am 26.11.2024.