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[Spalding, Johann Joachim]: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. 3. Aufl. Berlin, 1749.

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Das, was ich an manchen Beyspielen derer, die nach den
bisherigen Grundregeln verfahren, wahrnehme, ist schon ge-
schickt, einiges Mistrauen in diesen Zusammenhang meiner
Urtheile bey mir zu erwecken. Jch habe ihre Lust gesehen; ich
habe ihre Begierden gleichsam in ihrer Geburt befriediget ge-
sehen; ich habe gesehen, mit welcher Schnelligkeit sie von einer
Ergetzung zur andern geeilet, mit welcher Wachsamkeit sie auf
allen Seiten das Vergnügen gehaschet, das bey ihnen vorbey
streichen wollen, mit welcher triumphirenden Gewalt sie den
schwermüthigen und grüblenden Theil ihrer Sele in den
Schranken gehalten. Das war ein Meer von Wollust,
darin sie schwammen. Aber dieser Zustand ist nicht mehr,
und die Veränderung ist traurig. Jener seufzet in der Dürf-
tigkeit, die ihm, nebst dem kostbaren und ausgekünstelten
Vergnügen, auch zugleich das wolfeilere und natürlichere ent-
ziehet; und dieser schmachtet in Krankheiten und Schmerzen,
die ihn nichts angenehmes empfinden lassen. Eines sowol
als das andere ist eine eigentliche Folge ihres Eifers, womit
sie die grosse Grundregel, sich nichts zu versagen, zur Aus-
übung gebracht haben. Es fehlet unendlich viel, daß das
Andenken der Wollüste, die sie genossen, oder der Bemühun-
gen, womit sie darnach getrachtet haben, ihnen itzo eine über-
wiegende Beruhigung geben sollte. Diese werden ihnen
vielmehr zu so viel Furien, die ihr inwendiges zerreissen.

Das erschreckt mich. -- Wollte ich wol in ihrer
Stelle seyn? Wollte ich mich wol in die auch nur wahr-
scheinliche Gefahr geben, daß ich einmal in ihrer Stelle seyn
könnte? Sollte ich denn wol dazu auf der Welt seyn, alles
zu thun, was den Empfindungen meiner Sinnen schmei-
chelt? -- Es ist verdrüßlich, daß bey der wünschenswür-
digsten Sache in der Welt, bey dem Vergnügen, schlimme
Wirkungen möglich sind; aber das kann ich nun einmal
nicht ändern. Jch muß also bey dieser Regel nur auf Ein-
schränkungen bedacht seyn. Jch muß das Vergnügen der

Sinne


Das, was ich an manchen Beyſpielen derer, die nach den
bisherigen Grundregeln verfahren, wahrnehme, iſt ſchon ge-
ſchickt, einiges Mistrauen in dieſen Zuſammenhang meiner
Urtheile bey mir zu erwecken. Jch habe ihre Luſt geſehen; ich
habe ihre Begierden gleichſam in ihrer Geburt befriediget ge-
ſehen; ich habe geſehen, mit welcher Schnelligkeit ſie von einer
Ergetzung zur andern geeilet, mit welcher Wachſamkeit ſie auf
allen Seiten das Vergnuͤgen gehaſchet, das bey ihnen vorbey
ſtreichen wollen, mit welcher triumphirenden Gewalt ſie den
ſchwermuͤthigen und gruͤblenden Theil ihrer Sele in den
Schranken gehalten. Das war ein Meer von Wolluſt,
darin ſie ſchwammen. Aber dieſer Zuſtand iſt nicht mehr,
und die Veraͤnderung iſt traurig. Jener ſeufzet in der Duͤrf-
tigkeit, die ihm, nebſt dem koſtbaren und ausgekuͤnſtelten
Vergnuͤgen, auch zugleich das wolfeilere und natuͤrlichere ent-
ziehet; und dieſer ſchmachtet in Krankheiten und Schmerzen,
die ihn nichts angenehmes empfinden laſſen. Eines ſowol
als das andere iſt eine eigentliche Folge ihres Eifers, womit
ſie die groſſe Grundregel, ſich nichts zu verſagen, zur Aus-
uͤbung gebracht haben. Es fehlet unendlich viel, daß das
Andenken der Wolluͤſte, die ſie genoſſen, oder der Bemuͤhun-
gen, womit ſie darnach getrachtet haben, ihnen itzo eine uͤber-
wiegende Beruhigung geben ſollte. Dieſe werden ihnen
vielmehr zu ſo viel Furien, die ihr inwendiges zerreiſſen.

Das erſchreckt mich. — Wollte ich wol in ihrer
Stelle ſeyn? Wollte ich mich wol in die auch nur wahr-
ſcheinliche Gefahr geben, daß ich einmal in ihrer Stelle ſeyn
koͤnnte? Sollte ich denn wol dazu auf der Welt ſeyn, alles
zu thun, was den Empfindungen meiner Sinnen ſchmei-
chelt? — Es iſt verdruͤßlich, daß bey der wuͤnſchenswuͤr-
digſten Sache in der Welt, bey dem Vergnuͤgen, ſchlimme
Wirkungen moͤglich ſind; aber das kann ich nun einmal
nicht aͤndern. Jch muß alſo bey dieſer Regel nur auf Ein-
ſchraͤnkungen bedacht ſeyn. Jch muß das Vergnuͤgen der

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[6/0016] Das, was ich an manchen Beyſpielen derer, die nach den bisherigen Grundregeln verfahren, wahrnehme, iſt ſchon ge- ſchickt, einiges Mistrauen in dieſen Zuſammenhang meiner Urtheile bey mir zu erwecken. Jch habe ihre Luſt geſehen; ich habe ihre Begierden gleichſam in ihrer Geburt befriediget ge- ſehen; ich habe geſehen, mit welcher Schnelligkeit ſie von einer Ergetzung zur andern geeilet, mit welcher Wachſamkeit ſie auf allen Seiten das Vergnuͤgen gehaſchet, das bey ihnen vorbey ſtreichen wollen, mit welcher triumphirenden Gewalt ſie den ſchwermuͤthigen und gruͤblenden Theil ihrer Sele in den Schranken gehalten. Das war ein Meer von Wolluſt, darin ſie ſchwammen. Aber dieſer Zuſtand iſt nicht mehr, und die Veraͤnderung iſt traurig. Jener ſeufzet in der Duͤrf- tigkeit, die ihm, nebſt dem koſtbaren und ausgekuͤnſtelten Vergnuͤgen, auch zugleich das wolfeilere und natuͤrlichere ent- ziehet; und dieſer ſchmachtet in Krankheiten und Schmerzen, die ihn nichts angenehmes empfinden laſſen. Eines ſowol als das andere iſt eine eigentliche Folge ihres Eifers, womit ſie die groſſe Grundregel, ſich nichts zu verſagen, zur Aus- uͤbung gebracht haben. Es fehlet unendlich viel, daß das Andenken der Wolluͤſte, die ſie genoſſen, oder der Bemuͤhun- gen, womit ſie darnach getrachtet haben, ihnen itzo eine uͤber- wiegende Beruhigung geben ſollte. Dieſe werden ihnen vielmehr zu ſo viel Furien, die ihr inwendiges zerreiſſen. Das erſchreckt mich. — Wollte ich wol in ihrer Stelle ſeyn? Wollte ich mich wol in die auch nur wahr- ſcheinliche Gefahr geben, daß ich einmal in ihrer Stelle ſeyn koͤnnte? Sollte ich denn wol dazu auf der Welt ſeyn, alles zu thun, was den Empfindungen meiner Sinnen ſchmei- chelt? — Es iſt verdruͤßlich, daß bey der wuͤnſchenswuͤr- digſten Sache in der Welt, bey dem Vergnuͤgen, ſchlimme Wirkungen moͤglich ſind; aber das kann ich nun einmal nicht aͤndern. Jch muß alſo bey dieſer Regel nur auf Ein- ſchraͤnkungen bedacht ſeyn. Jch muß das Vergnuͤgen der Sinne

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Zitationshilfe: [Spalding, Johann Joachim]: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. 3. Aufl. Berlin, 1749, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spalding_bestimmung_1749/16>, abgerufen am 21.11.2024.