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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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ARTIC. I. DISTINCTIO IV. SECT. V.
glaube ich nicht/ daß der liebe mann unsere seele vor einen wesentlichen ausfluß des
Göttlichen wesens gehalten/ daß wie der ewige Sohn GOttes durch die geburt/
und der heilige Geist durch die spirationem von dem Vater ausgehen/ und gleich-
sam als aus einer quelle ausfliessen/ gleicher massen auch unsere seele aus GOTT
ausfliesse/ daß derselbe nicht nur principium a quo sendern ex quo unserer seele
wäre. Dann also muste die seele selbst GOTT und Göttlich seyen/ daher so we-
nig einer verderbnüß/ sünde/ elend/ unterworffen seyen können/ als das Göttliche
wesen selbst nicht ist.

Es erkennet aber der liebste mann die schreckliche verderbnüß der seele; so
nennet er sie auch vielmehr/ die Englisch/ edle seele/ als Göttlich: Er sagt zwar
auch/ daß fast die Göttlichkeit in ihr sich wie betrohnet/ er erklähret sich aber
selbs/ daß es daher geschehe/ weil der werthe gast von oben sie bewohnet/ nicht
daß sie aus der natur bereits Göttlich seye/ und aus GOTT als ein wasser aus
dem bronnen/ so mit demselben gleicher natur ist/ geflossen wäre. Die wort selbst
belangend/ achte ich/ haben wir auff die weise zu erklähren/ wie die poeten freyer zu
reden macht haben/ und an die locutiones proprias nicht so genau gebunden sind.
Wie er nun eines orts saget: Das leben fliesset aus GOTT/ und bald nach den
vorigen worten/ mein lebens brunn ist liebe werth/ sehe ich dieses auch an/ als die
erklährung der vorigen poetischen reden/ seelen quell/ die fleist aus ihm etc. Es
werde nehmlich damit nichts anders gemeint/ als wie unsere seel gleich wie andere
creaturen von GOTT erschaffen ist/ daß nun das geistliche leben/ welches unser
seele aus der widergeburt hat/ aus GOTT fliesse/ das ist/ seines Geists stäts fortse-
tzende würckung seye/ und sie also nach solchen ihren Göttlichen und geistlichen le-
ben aus GOTT fliesse. Wo der liebe autor annoch lebte/ so würde er sich etwa
besser selbs erklähren/ und seinen verstand ausdrucken können/ als jetzo ich und an-
dere/ es noch nicht dermassen vermögen. Jndessen sind wir gleichwohl schuldig/
auffs beste alles zu deuten.

Dieses ist mein einfältiges urtheil über die orthodoxiam des commu-
nicir
ten geistlichen wachsthums/ da bey ich den gütigsten Vater in dem him-
mel anruffe/ daß er aller die Christen heissen sollen hertzen mit erkämnüß der wahr-
heit und liebe erfüllen wolle/ daß sie weder wieder jene irren/ noch wider diese gegen
ihren nechsten in unwissenden eiffer sündigen. Er nehme doch hingegen diese schäd-
liche unart dermahleins hinweg/ welche zu unserer zeit sich an so vielen orten weiset/
da man alles auff das beste verketzeren gar zu schnell ist/ und damit manche schwache
schwerlich ärgert. Er leite auch ihn durch seines Geistes gnade in alle wahrheit/
und lasse ihn werden und seyen ein tüchtiges gefässe seiner gnaden und werckzeug sei-
ner ehre. 1681.

SECT.
Mmmm 3

ARTIC. I. DISTINCTIO IV. SECT. V.
glaube ich nicht/ daß der liebe mann unſere ſeele vor einen weſentlichen ausfluß des
Goͤttlichen weſens gehalten/ daß wie der ewige Sohn GOttes durch die geburt/
und der heilige Geiſt durch die ſpirationem von dem Vater ausgehen/ und gleich-
ſam als aus einer quelle ausflieſſen/ gleicher maſſen auch unſere ſeele aus GOTT
ausflieſſe/ daß derſelbe nicht nur principium à quo ſendern ex quo unſerer ſeele
waͤre. Dann alſo muſte die ſeele ſelbſt GOTT und Goͤttlich ſeyen/ daher ſo we-
nig einer verderbnuͤß/ ſuͤnde/ elend/ unterworffen ſeyen koͤnnen/ als das Goͤttliche
weſen ſelbſt nicht iſt.

Es erkennet aber der liebſte mann die ſchreckliche verderbnuͤß der ſeele; ſo
nennet er ſie auch vielmehr/ die Engliſch/ edle ſeele/ als Goͤttlich: Er ſagt zwar
auch/ daß faſt die Goͤttlichkeit in ihr ſich wie betrohnet/ er erklaͤhret ſich aber
ſelbs/ daß es daher geſchehe/ weil der werthe gaſt von oben ſie bewohnet/ nicht
daß ſie aus der natur bereits Goͤttlich ſeye/ und aus GOTT als ein waſſer aus
dem bronnen/ ſo mit demſelben gleicher natur iſt/ gefloſſen waͤre. Die wort ſelbſt
belangend/ achte ich/ haben wir auff die weiſe zu erklaͤhren/ wie die poeten freyer zu
reden macht haben/ und an die locutiones proprias nicht ſo genau gebunden ſind.
Wie er nun eines orts ſaget: Das leben flieſſet aus GOTT/ und bald nach den
vorigen worten/ mein lebens brunn iſt liebe werth/ ſehe ich dieſes auch an/ als die
erklaͤhrung der vorigen poetiſchen reden/ ſeelen quell/ die fleiſt aus ihm ꝛc. Es
werde nehmlich damit nichts anders gemeint/ als wie unſere ſeel gleich wie andere
creaturen von GOTT erſchaffen iſt/ daß nun das geiſtliche leben/ welches unſer
ſeele aus der widergeburt hat/ aus GOTT flieſſe/ das iſt/ ſeines Geiſts ſtaͤts fortſe-
tzende wuͤrckung ſeye/ und ſie alſo nach ſolchen ihren Goͤttlichen und geiſtlichen le-
ben aus GOTT flieſſe. Wo der liebe autor annoch lebte/ ſo wuͤrde er ſich etwa
beſſer ſelbs erklaͤhren/ und ſeinen verſtand ausdrucken koͤnnen/ als jetzo ich und an-
dere/ es noch nicht dermaſſen vermoͤgen. Jndeſſen ſind wir gleichwohl ſchuldig/
auffs beſte alles zu deuten.

Dieſes iſt mein einfaͤltiges urtheil uͤber die orthodoxiam des commu-
nicir
ten geiſtlichen wachsthums/ da bey ich den guͤtigſten Vater in dem him-
mel anruffe/ daß er aller die Chriſten heiſſen ſollen hertzen mit erkaͤmnuͤß der wahr-
heit und liebe erfuͤllen wolle/ daß ſie weder wieder jene irren/ noch wider dieſe gegen
ihren nechſten in unwiſſenden eiffer ſuͤndigen. Er nehme doch hingegen dieſe ſchaͤd-
liche unart dermahleins hinweg/ welche zu unſerer zeit ſich an ſo vielen orten weiſet/
da man alles auff das beſte verketzeren gar zu ſchnell iſt/ und damit manche ſchwache
ſchwerlich aͤrgert. Er leite auch ihn durch ſeines Geiſtes gnade in alle wahrheit/
und laſſe ihn werden und ſeyen ein tuͤchtiges gefaͤſſe ſeiner gnaden und werckzeug ſei-
ner ehre. 1681.

SECT.
Mmmm 3
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[645/0663] ARTIC. I. DISTINCTIO IV. SECT. V. glaube ich nicht/ daß der liebe mann unſere ſeele vor einen weſentlichen ausfluß des Goͤttlichen weſens gehalten/ daß wie der ewige Sohn GOttes durch die geburt/ und der heilige Geiſt durch die ſpirationem von dem Vater ausgehen/ und gleich- ſam als aus einer quelle ausflieſſen/ gleicher maſſen auch unſere ſeele aus GOTT ausflieſſe/ daß derſelbe nicht nur principium à quo ſendern ex quo unſerer ſeele waͤre. Dann alſo muſte die ſeele ſelbſt GOTT und Goͤttlich ſeyen/ daher ſo we- nig einer verderbnuͤß/ ſuͤnde/ elend/ unterworffen ſeyen koͤnnen/ als das Goͤttliche weſen ſelbſt nicht iſt. Es erkennet aber der liebſte mann die ſchreckliche verderbnuͤß der ſeele; ſo nennet er ſie auch vielmehr/ die Engliſch/ edle ſeele/ als Goͤttlich: Er ſagt zwar auch/ daß faſt die Goͤttlichkeit in ihr ſich wie betrohnet/ er erklaͤhret ſich aber ſelbs/ daß es daher geſchehe/ weil der werthe gaſt von oben ſie bewohnet/ nicht daß ſie aus der natur bereits Goͤttlich ſeye/ und aus GOTT als ein waſſer aus dem bronnen/ ſo mit demſelben gleicher natur iſt/ gefloſſen waͤre. Die wort ſelbſt belangend/ achte ich/ haben wir auff die weiſe zu erklaͤhren/ wie die poeten freyer zu reden macht haben/ und an die locutiones proprias nicht ſo genau gebunden ſind. Wie er nun eines orts ſaget: Das leben flieſſet aus GOTT/ und bald nach den vorigen worten/ mein lebens brunn iſt liebe werth/ ſehe ich dieſes auch an/ als die erklaͤhrung der vorigen poetiſchen reden/ ſeelen quell/ die fleiſt aus ihm ꝛc. Es werde nehmlich damit nichts anders gemeint/ als wie unſere ſeel gleich wie andere creaturen von GOTT erſchaffen iſt/ daß nun das geiſtliche leben/ welches unſer ſeele aus der widergeburt hat/ aus GOTT flieſſe/ das iſt/ ſeines Geiſts ſtaͤts fortſe- tzende wuͤrckung ſeye/ und ſie alſo nach ſolchen ihren Goͤttlichen und geiſtlichen le- ben aus GOTT flieſſe. Wo der liebe autor annoch lebte/ ſo wuͤrde er ſich etwa beſſer ſelbs erklaͤhren/ und ſeinen verſtand ausdrucken koͤnnen/ als jetzo ich und an- dere/ es noch nicht dermaſſen vermoͤgen. Jndeſſen ſind wir gleichwohl ſchuldig/ auffs beſte alles zu deuten. Dieſes iſt mein einfaͤltiges urtheil uͤber die orthodoxiam des commu- nicirten geiſtlichen wachsthums/ da bey ich den guͤtigſten Vater in dem him- mel anruffe/ daß er aller die Chriſten heiſſen ſollen hertzen mit erkaͤmnuͤß der wahr- heit und liebe erfuͤllen wolle/ daß ſie weder wieder jene irren/ noch wider dieſe gegen ihren nechſten in unwiſſenden eiffer ſuͤndigen. Er nehme doch hingegen dieſe ſchaͤd- liche unart dermahleins hinweg/ welche zu unſerer zeit ſich an ſo vielen orten weiſet/ da man alles auff das beſte verketzeren gar zu ſchnell iſt/ und damit manche ſchwache ſchwerlich aͤrgert. Er leite auch ihn durch ſeines Geiſtes gnade in alle wahrheit/ und laſſe ihn werden und ſeyen ein tuͤchtiges gefaͤſſe ſeiner gnaden und werckzeug ſei- ner ehre. 1681. SECT. Mmmm 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/663>, abgerufen am 22.11.2024.