Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.Das sechste Capitel. allen bösen begierden und sündigen zuneigungen (welches ist der gantzebaum samt den früchten) auch noch in uns bleibet/ so können aus diesen ursachen die 10. gebot nicht vollkommenlich vollbracht und gehalten wer- den. Dann wann wir die 10. gebot gantz erfüllen und halten könten/ was dürfften wir der gerechtigkeit/ welche David hie durch das wort gnädig be- gehret und bittet/ das ist/ was wäre es von nöthen zu bitten/ daß er unsre missethat nicht solle zu rechnen. Weil aber auch in den heiligen noch s[ü]nde übrig ist/ und die sündliche natur sich noch starck reget/ und nicht gar getö- tet ist/ so widerfähret uns leides: Erstlich daß wir durch den Geist/ so in uns wohnet/ den s[ü]nden widerstreben/ und nach den 10 gebothen thun und leben: Darnach wann wir gleich von unserm fleisch und satan zu zeiten ü- bereilet in sünden fallen/ daß wir gleichwol vergebung der sünden hoffen. Und bald darauff: Darum ist unser gantzes leben biß in den todt nichts an- ders denn lauter barmhertzigkeit GOttes gegen uns. Doch halten gleich- wol die Christen die 10. gebote/ wiewol unvollkömmlich/ um der sünde willen/ so in uns wohnet. Nochmahl schreibet er Tom. 6. Alt. f. 866. a. So erfüllt nun ein Christ das gesetz innerlich durch den glauben imputative, auswendig durch die wercke und vergebung der sünden. 5. Was den angeführten ort anlangt aus Tom. 1. Wittenb. f. 273. da die liche
Das ſechſte Capitel. allen boͤſen begierden und ſuͤndigen zuneigungen (welches iſt der gantzebaum ſamt den fruͤchten) auch noch in uns bleibet/ ſo koͤnnen aus dieſen urſachen die 10. gebot nicht vollkommenlich vollbracht und gehalten wer- den. Dann wann wir die 10. gebot gantz erfuͤllen und halten koͤnten/ was duͤrfften wir der gerechtigkeit/ welche David hie durch das wort gnaͤdig be- gehret und bittet/ das iſt/ was waͤre es von noͤthen zu bitten/ daß er unſre miſſethat nicht ſolle zu rechnen. Weil aber auch in den heiligen noch ſ[uͤ]nde uͤbrig iſt/ und die ſuͤndliche natur ſich noch ſtarck reget/ und nicht gar getoͤ- tet iſt/ ſo widerfaͤhret uns leides: Erſtlich daß wir durch den Geiſt/ ſo in uns wohnet/ den ſ[uͤ]nden widerſtreben/ und nach den 10 gebothen thun und leben: Darnach wann wir gleich von unſerm fleiſch und ſatan zu zeiten uͤ- bereilet in ſuͤnden fallen/ daß wir gleichwol vergebung der ſuͤnden hoffen. Und bald darauff: Darum iſt unſer gantzes leben biß in den todt nichts an- ders denn lauter barmhertzigkeit GOttes gegen uns. Doch halten gleich- wol die Chriſten die 10. gebote/ wiewol unvollkoͤmmlich/ um der ſuͤnde willen/ ſo in uns wohnet. Nochmahl ſchreibet er Tom. 6. Alt. f. 866. a. So erfuͤllt nun ein Chriſt das geſetz innerlich durch den glauben imputative, auswendig durch die wercke und vergebung der ſuͤnden. 5. Was den angefuͤhrten ort anlangt aus Tom. 1. Wittenb. f. 273. da die liche
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0992" n="974"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das ſechſte Capitel.</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">allen boͤſen begierden und ſuͤndigen zuneigungen (welches iſt der gantze<lb/> baum ſamt den fruͤchten) auch noch in uns bleibet/ ſo koͤnnen aus dieſen<lb/> urſachen die 10. gebot nicht vollkommenlich vollbracht und gehalten wer-<lb/> den. Dann wann wir die 10. gebot gantz erfuͤllen und halten koͤnten/ was<lb/> duͤrfften wir der gerechtigkeit/ welche David hie durch das wort gnaͤdig be-<lb/> gehret und bittet/ das iſt/ was waͤre es von noͤthen zu bitten/ daß er unſre<lb/> miſſethat nicht ſolle zu rechnen. Weil aber auch in den heiligen noch ſ<supplied>uͤ</supplied>nde<lb/> uͤbrig iſt/ und die ſuͤndliche natur ſich noch ſtarck reget/ und nicht gar getoͤ-<lb/> tet iſt/ ſo widerfaͤhret uns leides: Erſtlich daß wir durch den Geiſt/ ſo in<lb/> uns wohnet/ den ſ<supplied>uͤ</supplied>nden widerſtreben/ und nach den 10 gebothen thun und<lb/> leben: Darnach wann wir gleich von unſerm fleiſch und ſatan zu zeiten uͤ-<lb/> bereilet in ſuͤnden fallen/ daß wir gleichwol vergebung der ſuͤnden hoffen.</hi><lb/> Und bald darauff: <hi rendition="#fr">Darum iſt unſer gantzes leben biß in den todt nichts an-<lb/> ders denn lauter barmhertzigkeit GOttes gegen uns. Doch halten gleich-<lb/> wol die Chriſten die 10. gebote/ wiewol unvollkoͤmmlich/ um der ſuͤnde<lb/> willen/ ſo in uns wohnet.</hi> Nochmahl ſchreibet er <hi rendition="#aq">Tom. 6. Alt. f. 866. a.</hi> <hi rendition="#fr">So<lb/> erfuͤllt nun ein Chriſt das geſetz innerlich durch den glauben</hi> <hi rendition="#aq">imputative,</hi><lb/><hi rendition="#fr">auswendig durch die wercke und vergebung der ſuͤnden.</hi></p><lb/> <p>5. Was den angefuͤhrten ort anlangt aus <hi rendition="#aq">Tom. 1. Wittenb. f. 273.</hi> da die<lb/> wort ſtehen ſollen: <hi rendition="#aq">præcepta ſervari non poſſe, imo nec hominem ad ea ſer-<lb/> vanda obligari,</hi> kan ich/ weil ich die <hi rendition="#aq">Lateini</hi>ſche <hi rendition="#aq">Tomos Witenbergenſes</hi> nicht<lb/> zur hand bekommen koͤnnen/ nicht ſo eigenlich darauff antworten/ ich will a-<lb/> ber/ als des mannes ſchrifften und ſchreibart zimlich kundig/ verſichern/ daß<lb/> wo man den gantzen <hi rendition="#aq">context</hi> nach ſehen/ kein anderer verſtand ſeyen wird/ als<lb/> wie ich auch lehre. Nehmlich 1. das Göttliche gebote nach dem <hi rendition="#aq">rigore le-<lb/> gis</hi> und in ihrer vollkommenheit von uns nicht gehalten/ und wir alſo dar-<lb/> aus die ſeligkeit nicht herhaben koͤnnen; ja eben daher bedoͤrffen wir Chri-<lb/> ſti und ſeiner zugerechneten gerechtigkeit/ weil wir ſie nicht vollkommen zu<lb/> halten vermoͤgen. Jn deſſen bleibet 2. dennoch wahr/ daß ſie von einen glau-<lb/> bigen gehalten werden koͤnnen auff zwar unvollkommene/ gleichwohl ſolche<lb/> art/ daß der himmliſche Vater ſolchen gehorſam von ſeinen kindern gnaͤdig<lb/> annimmet. 3. Alſo iſt auch beides wahr/ einerſeits/ der menſch iſt ſtets ver-<lb/> bunden Goͤttliche gebot zu halten/ ſo wol als ferne er noch unter dem geſetz<lb/> und auſſer Chriſto/ alſo daß ihm wegen des nicht haltens ſtets noch mit der<lb/> verdamnuͤß gerechter weiſe gedrohet wird/ als auch da er durch den glauben<lb/> in Chriſto und von des geſetzes gewalt erloͤſet iſt; Dann ob GOtt wol aus<lb/> gnaden ihm ſeine maͤngel vergiebet/ ſo bleibet doch die verbindlichkeit an den<lb/> gehorſam unverruͤckt: anderſeits aber iſt auch wahr/ der menſch (nehmlich<lb/> der numehr in Chriſto Jeſu durch den glaubẽ iſt) iſt nicht verbundẽ die Goͤtt-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">liche</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [974/0992]
Das ſechſte Capitel.
allen boͤſen begierden und ſuͤndigen zuneigungen (welches iſt der gantze
baum ſamt den fruͤchten) auch noch in uns bleibet/ ſo koͤnnen aus dieſen
urſachen die 10. gebot nicht vollkommenlich vollbracht und gehalten wer-
den. Dann wann wir die 10. gebot gantz erfuͤllen und halten koͤnten/ was
duͤrfften wir der gerechtigkeit/ welche David hie durch das wort gnaͤdig be-
gehret und bittet/ das iſt/ was waͤre es von noͤthen zu bitten/ daß er unſre
miſſethat nicht ſolle zu rechnen. Weil aber auch in den heiligen noch ſuͤnde
uͤbrig iſt/ und die ſuͤndliche natur ſich noch ſtarck reget/ und nicht gar getoͤ-
tet iſt/ ſo widerfaͤhret uns leides: Erſtlich daß wir durch den Geiſt/ ſo in
uns wohnet/ den ſuͤnden widerſtreben/ und nach den 10 gebothen thun und
leben: Darnach wann wir gleich von unſerm fleiſch und ſatan zu zeiten uͤ-
bereilet in ſuͤnden fallen/ daß wir gleichwol vergebung der ſuͤnden hoffen.
Und bald darauff: Darum iſt unſer gantzes leben biß in den todt nichts an-
ders denn lauter barmhertzigkeit GOttes gegen uns. Doch halten gleich-
wol die Chriſten die 10. gebote/ wiewol unvollkoͤmmlich/ um der ſuͤnde
willen/ ſo in uns wohnet. Nochmahl ſchreibet er Tom. 6. Alt. f. 866. a. So
erfuͤllt nun ein Chriſt das geſetz innerlich durch den glauben imputative,
auswendig durch die wercke und vergebung der ſuͤnden.
5. Was den angefuͤhrten ort anlangt aus Tom. 1. Wittenb. f. 273. da die
wort ſtehen ſollen: præcepta ſervari non poſſe, imo nec hominem ad ea ſer-
vanda obligari, kan ich/ weil ich die Lateiniſche Tomos Witenbergenſes nicht
zur hand bekommen koͤnnen/ nicht ſo eigenlich darauff antworten/ ich will a-
ber/ als des mannes ſchrifften und ſchreibart zimlich kundig/ verſichern/ daß
wo man den gantzen context nach ſehen/ kein anderer verſtand ſeyen wird/ als
wie ich auch lehre. Nehmlich 1. das Göttliche gebote nach dem rigore le-
gis und in ihrer vollkommenheit von uns nicht gehalten/ und wir alſo dar-
aus die ſeligkeit nicht herhaben koͤnnen; ja eben daher bedoͤrffen wir Chri-
ſti und ſeiner zugerechneten gerechtigkeit/ weil wir ſie nicht vollkommen zu
halten vermoͤgen. Jn deſſen bleibet 2. dennoch wahr/ daß ſie von einen glau-
bigen gehalten werden koͤnnen auff zwar unvollkommene/ gleichwohl ſolche
art/ daß der himmliſche Vater ſolchen gehorſam von ſeinen kindern gnaͤdig
annimmet. 3. Alſo iſt auch beides wahr/ einerſeits/ der menſch iſt ſtets ver-
bunden Goͤttliche gebot zu halten/ ſo wol als ferne er noch unter dem geſetz
und auſſer Chriſto/ alſo daß ihm wegen des nicht haltens ſtets noch mit der
verdamnuͤß gerechter weiſe gedrohet wird/ als auch da er durch den glauben
in Chriſto und von des geſetzes gewalt erloͤſet iſt; Dann ob GOtt wol aus
gnaden ihm ſeine maͤngel vergiebet/ ſo bleibet doch die verbindlichkeit an den
gehorſam unverruͤckt: anderſeits aber iſt auch wahr/ der menſch (nehmlich
der numehr in Chriſto Jeſu durch den glaubẽ iſt) iſt nicht verbundẽ die Goͤtt-
liche
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |