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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. I. SECT. XIX.
freyheit, freudigkeit und den unverstopfften mund gelassen, daß sie
noch wol ein wort in seinem angesicht zu reden macht habe. Aus
der freyheit sprach Hiskia so getrost auf seinem angstbette: Geden-
cke doch HErr, wie ich vor dir gewandelt habe in der warheit mit
vollkommenem hertzen. Aus der freyheit darss Paulus auftreten
und rühmen, er habe gewandelt vor menschen auch vor GOTT in
einf[ä]ltigkeit göttlicher lauterkeit. Summa ein treuer mann, ein
vollkommener mann: ein treues, ein gantzes hertz.
Aus diesen wor-
ten/ sage ich/ solte es das ansehen gewinnen der autor behaupte damit den
irrthum der Papisten/ daß die werck auch ein theil mit an der rechtferti-
gung haben. Weil der treue/ so gleichwol eine tugend und werck des ge-
setzes ist/ so grosse dinge/ wie sie auch vor GOttes gericht angesehen wer-
de/ beygeleget werden. Wo aber die sache genauer angesehen/ und so
wort als absicht erwogen werden/ hoffe ich/ werde sich ergeben/ daß diese
auflage keinen gnugsamen grund habe. Dieses zu erkennen/ haben wir
auf das subjectum und die praedicata zu sehen. Das subjectum ist die
treue wie er redet. Nun ist zwar an dem/ daß die treue auch heisset eine
solche tugend/ da wir dem nechsten mit liebe zugethan/ es gut mit ihm mei-
nen/ und solches in den wercken erzeigen/ wie wir zu pflegen sagen/ einem
lieb und treu erzeigen: Also auch gegen GOtt heisset derjenige treu/ wel-
cher mit fleiß und sorgfalt ohne versäumnüß dasjenige thut/ was göttlicher
dienst von ihm fordert. Wo wir aber diesen gantzen context ansehen/ ist
dieses nicht der eigenliche verstand des worts/ wie es hie der Autor brau-
chet/ sondern vielmehr verstehet er dardurch nicht sowol eine absonderliche
tugend/ als eine eigenschafft/ so sich bey allen tugenden und bey dem glau-
ben selbs finden und darin stecken muß. Jst also diese treu nichts anders
als die lauterkeit und aufrichtigkeit in allem demjenigen guten/ was an
dem menschen ist oder seyn solle/ sonderlich worinnen ers mit GOTT zu
thun hat/ daß es nichts erdichtetes/ falsches/ heuchlerisches/ sondern redlich
und hertzlich seye. Dahero sehen wir/ wie er deutlich bey dem glauben so-
wol als bey der liebe diese treu fordert/ und also haben will/ unser glaub/
dasjenige vertrauen/ so wir auf GOttes gnad in Christo haben/ solle treu-
lich seyn/ das ist hertzlich und ohne heucheley. Also auch das gantze werck/
worinn wir es mit GOtt zu thun haben/ daß wir ihn suchen/ muß gleich-
falls in treue/ das ist in aufrichtigkeit und redlichkeit geschehen. Was die
praedicata anlangt/ ist zu mercken/ daß er nicht eigenlich praecise von der
rechtfertigung rede/ sondern von allem dem/ was GOtt gefället und ange-
nehm ist/ u. worinn wir Gott gefallen können. Dahero ist endlich alles was

hie
n 3

ARTIC. I. SECT. XIX.
freyheit, freudigkeit und den unverſtopfften mund gelaſſen, daß ſie
noch wol ein wort in ſeinem angeſicht zu reden macht habe. Aus
der freyheit ſprach Hiskia ſo getroſt auf ſeinem angſtbette: Geden-
cke doch HErr, wie ich vor dir gewandelt habe in der warheit mit
vollkommenem hertzen. Aus der freyheit darſſ Paulus auftreten
und ruͤhmen, er habe gewandelt vor menſchen auch vor GOTT in
einf[aͤ]ltigkeit goͤttlicher lauterkeit. Summa ein treuer mann, ein
vollkommener mann: ein treues, ein gantzes hertz.
Aus dieſen wor-
ten/ ſage ich/ ſolte es das anſehen gewinnen der autor behaupte damit den
irrthum der Papiſten/ daß die werck auch ein theil mit an der rechtferti-
gung haben. Weil der treue/ ſo gleichwol eine tugend und werck des ge-
ſetzes iſt/ ſo groſſe dinge/ wie ſie auch vor GOttes gericht angeſehen wer-
de/ beygeleget werden. Wo aber die ſache genauer angeſehen/ und ſo
wort als abſicht erwogen werden/ hoffe ich/ werde ſich ergeben/ daß dieſe
auflage keinen gnugſamen grund habe. Dieſes zu erkennen/ haben wir
auf das ſubjectum und die prædicata zu ſehen. Das ſubjectum iſt die
treue wie er redet. Nun iſt zwar an dem/ daß die treue auch heiſſet eine
ſolche tugend/ da wir dem nechſten mit liebe zugethan/ es gut mit ihm mei-
nen/ und ſolches in den wercken erzeigen/ wie wir zu pflegen ſagen/ einem
lieb und treu erzeigen: Alſo auch gegen GOtt heiſſet derjenige treu/ wel-
cher mit fleiß und ſorgfalt ohne verſaͤumnuͤß dasjenige thut/ was goͤttlicheꝛ
dienſt von ihm fordert. Wo wir aber dieſen gantzen context anſehen/ iſt
dieſes nicht der eigenliche verſtand des worts/ wie es hie der Autor brau-
chet/ ſondern vielmehr verſtehet er dardurch nicht ſowol eine abſonderliche
tugend/ als eine eigenſchafft/ ſo ſich bey allen tugenden und bey dem glau-
ben ſelbs finden und darin ſtecken muß. Jſt alſo dieſe treu nichts anders
als die lauterkeit und aufrichtigkeit in allem demjenigen guten/ was an
dem menſchen iſt oder ſeyn ſolle/ ſonderlich worinnen ers mit GOTT zu
thun hat/ daß es nichts erdichtetes/ falſches/ heuchleriſches/ ſondern redlich
und hertzlich ſeye. Dahero ſehen wir/ wie er deutlich bey dem glauben ſo-
wol als bey der liebe dieſe treu fordert/ und alſo haben will/ unſer glaub/
dasjenige vertrauen/ ſo wir auf GOttes gnad in Chriſto haben/ ſolle treu-
lich ſeyn/ das iſt hertzlich und ohne heucheley. Alſo auch das gantze werck/
worinn wir es mit GOtt zu thun haben/ daß wir ihn ſuchen/ muß gleich-
falls in treue/ das iſt in aufrichtigkeit und redlichkeit geſchehen. Was die
prædicata anlangt/ iſt zu mercken/ daß er nicht eigenlich præciſe von der
rechtfertigung rede/ ſondern von allem dem/ was GOtt gefaͤllet und ange-
nehm iſt/ u. worinn wir Gott gefallen koͤnnen. Dahero iſt endlich alles was

hie
n 3
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[101/0113] ARTIC. I. SECT. XIX. freyheit, freudigkeit und den unverſtopfften mund gelaſſen, daß ſie noch wol ein wort in ſeinem angeſicht zu reden macht habe. Aus der freyheit ſprach Hiskia ſo getroſt auf ſeinem angſtbette: Geden- cke doch HErr, wie ich vor dir gewandelt habe in der warheit mit vollkommenem hertzen. Aus der freyheit darſſ Paulus auftreten und ruͤhmen, er habe gewandelt vor menſchen auch vor GOTT in einfaͤltigkeit goͤttlicher lauterkeit. Summa ein treuer mann, ein vollkommener mann: ein treues, ein gantzes hertz. Aus dieſen wor- ten/ ſage ich/ ſolte es das anſehen gewinnen der autor behaupte damit den irrthum der Papiſten/ daß die werck auch ein theil mit an der rechtferti- gung haben. Weil der treue/ ſo gleichwol eine tugend und werck des ge- ſetzes iſt/ ſo groſſe dinge/ wie ſie auch vor GOttes gericht angeſehen wer- de/ beygeleget werden. Wo aber die ſache genauer angeſehen/ und ſo wort als abſicht erwogen werden/ hoffe ich/ werde ſich ergeben/ daß dieſe auflage keinen gnugſamen grund habe. Dieſes zu erkennen/ haben wir auf das ſubjectum und die prædicata zu ſehen. Das ſubjectum iſt die treue wie er redet. Nun iſt zwar an dem/ daß die treue auch heiſſet eine ſolche tugend/ da wir dem nechſten mit liebe zugethan/ es gut mit ihm mei- nen/ und ſolches in den wercken erzeigen/ wie wir zu pflegen ſagen/ einem lieb und treu erzeigen: Alſo auch gegen GOtt heiſſet derjenige treu/ wel- cher mit fleiß und ſorgfalt ohne verſaͤumnuͤß dasjenige thut/ was goͤttlicheꝛ dienſt von ihm fordert. Wo wir aber dieſen gantzen context anſehen/ iſt dieſes nicht der eigenliche verſtand des worts/ wie es hie der Autor brau- chet/ ſondern vielmehr verſtehet er dardurch nicht ſowol eine abſonderliche tugend/ als eine eigenſchafft/ ſo ſich bey allen tugenden und bey dem glau- ben ſelbs finden und darin ſtecken muß. Jſt alſo dieſe treu nichts anders als die lauterkeit und aufrichtigkeit in allem demjenigen guten/ was an dem menſchen iſt oder ſeyn ſolle/ ſonderlich worinnen ers mit GOTT zu thun hat/ daß es nichts erdichtetes/ falſches/ heuchleriſches/ ſondern redlich und hertzlich ſeye. Dahero ſehen wir/ wie er deutlich bey dem glauben ſo- wol als bey der liebe dieſe treu fordert/ und alſo haben will/ unſer glaub/ dasjenige vertrauen/ ſo wir auf GOttes gnad in Chriſto haben/ ſolle treu- lich ſeyn/ das iſt hertzlich und ohne heucheley. Alſo auch das gantze werck/ worinn wir es mit GOtt zu thun haben/ daß wir ihn ſuchen/ muß gleich- falls in treue/ das iſt in aufrichtigkeit und redlichkeit geſchehen. Was die prædicata anlangt/ iſt zu mercken/ daß er nicht eigenlich præciſe von der rechtfertigung rede/ ſondern von allem dem/ was GOtt gefaͤllet und ange- nehm iſt/ u. worinn wir Gott gefallen koͤnnen. Dahero iſt endlich alles was hie n 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/113>, abgerufen am 24.11.2024.