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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. I. SECTIO XIX.
muth vortreflich hervorgeleuchtet hat, und des heiligen Geistes reinigkeit
und reinigende krafft bekant ist. Wer also nach seinem menschlichen maaß
in frömmigkeit, demuth und reinigkeit diesem höchsten modell nachahmet,
der ist vollkommen wie GOTT, nemlich auf eine solche art, wie ein schwa-
cher mensch mit GOtt verglichen werden kan. Wie dann die vergleichung
nicht eben eine aequalitatem sondern similitudinem mit sich bringet. Es
ist ein k veritatis, nicht aequalitatis oder similitudinis plenariae. Wir mö-
gen warhafftig oder falsch vollkommen seyn, das ist, die dinge an uns haben,
welche unter dem namen der vollkommenheit verstanden werden, ob sie wol
unendlich geringer an uns als in GOTT sind. 3. Wie also aus diesen wor-
ten durchaus nicht folget, daß den schwachen menschen eine allzugrosse voll-
kommenheit zugeschrieben werde, so erkläret der autor seine meinung gantz
deutlich, da er ja aus sündigen menschen nicht will gar heilige Engel haben,
vielweniger leute, die GOtt vollkommen gleich seyn wolten. Es gehet
aber seine rede gegen die jenige, die sich der menschlichen schwachheiten zur
entschuldigung ihrer trägheit mißbrauchen, und also von solcher frömmig-
keit, demuth und reinigkeit, daß sie den christen müglich, nichts wissen wollen:
die weiset er dann darauf, daß eine solche vollkommenheit (nemlich in erklär-
tem verstand) von Christo als etwas mügliches von uns erfordert werde.
Jn dessen heisset es doch auch in dem folgenden, wo ein vollkommenes hertz
vor GOtt seyn solle, müsse es das wahrhafftige Urim und Thummim in
sich fassen, nemlich glauben und gut gewissen, gesetz und evangelium. Wo a-
ber eine vollkommene heiligkeit bey uns selbs sich finden könte, hätte der glau-
be und evangelium wenig platz mehr, oder bedörfften wir derselben zur selig-
keit nicht, als die das gesetz vollkommen hielten. 2. Was den zweiten ort be-
trifft, hat uns abermal nicht zu irren, daß der autor eine vollkommenheit von
uns fordert, da er selbs dieselbe erkläret, daß er sie solches orts nicht anders
ansehe, als wie sie eine unveränderliche beständigkeit in dem guten sagen wol-
te. Wo zwar wiederum ein unendlicher unterschied zwischen GOTT
und uns bleibet, da es bey GOtt bloß unmöglich ist anders zu werden, in
dem seine ewige natur bloß dahin keiner änderung unterworffen ist, bey uns
aber ists eine beständigkeit, so bey unserer unheständigen natur aus gnaden
gewircket werden muß, und wir nichts anders dabey haben, als daß wir
uns derselben nicht entziehen. Alsdenn sind wir gleichwol so warhafftig,
aber in einem gar viel niederen grad, beständig, als solches von GOTT
gesagt wird. Daß ferner ein christ gesinnet solle und könne seyn, wie Chri-
stus gewesen ist, und noch ist, hoffe ich, daß niemand der schrifft kündigen
solches leugnen werde: Ob wol abermal unter den schritten, damit er
uns als ein Riese vorgehet, und wir auf solchem pfad als kleine kinder ihm

nach-
IV. Theil. o

ARTIC. I. SECTIO XIX.
muth vortreflich hervorgeleuchtet hat, und des heiligen Geiſtes reinigkeit
und reinigende krafft bekant iſt. Wer alſo nach ſeinem menſchlichen maaß
in froͤmmigkeit, demuth und reinigkeit dieſem hoͤchſten modell nachahmet,
der iſt vollkommen wie GOTT, nemlich auf eine ſolche art, wie ein ſchwa-
cher menſch mit GOtt verglichen werden kan. Wie dann die vergleichung
nicht eben eine æqualitatem ſondern ſimilitudinem mit ſich bringet. Es
iſt ein כ veritatis, nicht æqualitatis oder ſimilitudinis plenariæ. Wir moͤ-
gen warhafftig oder falſch vollkommen ſeyn, das iſt, die dinge an uns haben,
welche unter dem namen der vollkommenheit verſtanden werden, ob ſie wol
unendlich geringer an uns als in GOTT ſind. 3. Wie alſo aus dieſen wor-
ten durchaus nicht folget, daß den ſchwachen menſchen eine allzugroſſe voll-
kommenheit zugeſchrieben werde, ſo erklaͤret der autor ſeine meinung gantz
deutlich, da er ja aus ſuͤndigen menſchen nicht will gar heilige Engel haben,
vielweniger leute, die GOtt vollkommen gleich ſeyn wolten. Es gehet
aber ſeine rede gegen die jenige, die ſich der menſchlichen ſchwachheiten zur
entſchuldigung ihrer traͤgheit mißbrauchen, und alſo von ſolcher froͤmmig-
keit, demuth und reinigkeit, daß ſie den chriſten muͤglich, nichts wiſſen wollen:
die weiſet er dann darauf, daß eine ſolche vollkommenheit (nemlich in erklaͤr-
tem verſtand) von Chriſto als etwas muͤgliches von uns erfordert werde.
Jn deſſen heiſſet es doch auch in dem folgenden, wo ein vollkommenes hertz
vor GOtt ſeyn ſolle, muͤſſe es das wahrhafftige Urim und Thummim in
ſich faſſen, nemlich glauben und gut gewiſſen, geſetz und evangelium. Wo a-
ber eine vollkommene heiligkeit bey uns ſelbs ſich finden koͤnte, haͤtte der glau-
be und evangelium wenig platz mehr, oder bedoͤrfften wir derſelben zur ſelig-
keit nicht, als die das geſetz vollkommen hielten. 2. Was den zweiten ort be-
trifft, hat uns abermal nicht zu irren, daß der autor eine vollkommenheit von
uns fordert, da er ſelbs dieſelbe erklaͤret, daß er ſie ſolches orts nicht anders
anſehe, als wie ſie eine unveraͤnderliche beſtaͤndigkeit in dem guten ſagen wol-
te. Wo zwar wiederum ein unendlicher unterſchied zwiſchen GOTT
und uns bleibet, da es bey GOtt bloß unmoͤglich iſt anders zu werden, in
dem ſeine ewige natur bloß dahin keiner aͤnderung unterworffen iſt, bey uns
aber iſts eine beſtaͤndigkeit, ſo bey unſerer unheſtaͤndigen natur aus gnaden
gewircket werden muß, und wir nichts anders dabey haben, als daß wir
uns derſelben nicht entziehen. Alsdenn ſind wir gleichwol ſo warhafftig,
aber in einem gar viel niederen grad, beſtaͤndig, als ſolches von GOTT
geſagt wird. Daß ferner ein chriſt geſinnet ſolle und koͤnne ſeyn, wie Chri-
ſtus geweſen iſt, und noch iſt, hoffe ich, daß niemand der ſchrifft kuͤndigen
ſolches leugnen werde: Ob wol abermal unter den ſchritten, damit er
uns als ein Rieſe vorgehet, und wir auf ſolchem pfad als kleine kinder ihm

nach-
IV. Theil. o
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[105/0117] ARTIC. I. SECTIO XIX. muth vortreflich hervorgeleuchtet hat, und des heiligen Geiſtes reinigkeit und reinigende krafft bekant iſt. Wer alſo nach ſeinem menſchlichen maaß in froͤmmigkeit, demuth und reinigkeit dieſem hoͤchſten modell nachahmet, der iſt vollkommen wie GOTT, nemlich auf eine ſolche art, wie ein ſchwa- cher menſch mit GOtt verglichen werden kan. Wie dann die vergleichung nicht eben eine æqualitatem ſondern ſimilitudinem mit ſich bringet. Es iſt ein כ veritatis, nicht æqualitatis oder ſimilitudinis plenariæ. Wir moͤ- gen warhafftig oder falſch vollkommen ſeyn, das iſt, die dinge an uns haben, welche unter dem namen der vollkommenheit verſtanden werden, ob ſie wol unendlich geringer an uns als in GOTT ſind. 3. Wie alſo aus dieſen wor- ten durchaus nicht folget, daß den ſchwachen menſchen eine allzugroſſe voll- kommenheit zugeſchrieben werde, ſo erklaͤret der autor ſeine meinung gantz deutlich, da er ja aus ſuͤndigen menſchen nicht will gar heilige Engel haben, vielweniger leute, die GOtt vollkommen gleich ſeyn wolten. Es gehet aber ſeine rede gegen die jenige, die ſich der menſchlichen ſchwachheiten zur entſchuldigung ihrer traͤgheit mißbrauchen, und alſo von ſolcher froͤmmig- keit, demuth und reinigkeit, daß ſie den chriſten muͤglich, nichts wiſſen wollen: die weiſet er dann darauf, daß eine ſolche vollkommenheit (nemlich in erklaͤr- tem verſtand) von Chriſto als etwas muͤgliches von uns erfordert werde. Jn deſſen heiſſet es doch auch in dem folgenden, wo ein vollkommenes hertz vor GOtt ſeyn ſolle, muͤſſe es das wahrhafftige Urim und Thummim in ſich faſſen, nemlich glauben und gut gewiſſen, geſetz und evangelium. Wo a- ber eine vollkommene heiligkeit bey uns ſelbs ſich finden koͤnte, haͤtte der glau- be und evangelium wenig platz mehr, oder bedoͤrfften wir derſelben zur ſelig- keit nicht, als die das geſetz vollkommen hielten. 2. Was den zweiten ort be- trifft, hat uns abermal nicht zu irren, daß der autor eine vollkommenheit von uns fordert, da er ſelbs dieſelbe erklaͤret, daß er ſie ſolches orts nicht anders anſehe, als wie ſie eine unveraͤnderliche beſtaͤndigkeit in dem guten ſagen wol- te. Wo zwar wiederum ein unendlicher unterſchied zwiſchen GOTT und uns bleibet, da es bey GOtt bloß unmoͤglich iſt anders zu werden, in dem ſeine ewige natur bloß dahin keiner aͤnderung unterworffen iſt, bey uns aber iſts eine beſtaͤndigkeit, ſo bey unſerer unheſtaͤndigen natur aus gnaden gewircket werden muß, und wir nichts anders dabey haben, als daß wir uns derſelben nicht entziehen. Alsdenn ſind wir gleichwol ſo warhafftig, aber in einem gar viel niederen grad, beſtaͤndig, als ſolches von GOTT geſagt wird. Daß ferner ein chriſt geſinnet ſolle und koͤnne ſeyn, wie Chri- ſtus geweſen iſt, und noch iſt, hoffe ich, daß niemand der ſchrifft kuͤndigen ſolches leugnen werde: Ob wol abermal unter den ſchritten, damit er uns als ein Rieſe vorgehet, und wir auf ſolchem pfad als kleine kinder ihm nach- IV. Theil. o

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/117>, abgerufen am 24.11.2024.