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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. II. SECTIO II.
darüber haben, wo aller orten und von jederman dieses allerliebste studium
am angelegenlichsten getrieben wird, auch das was von andern gutes ge-
schiehet, jedem so etwa in einer andern versamlung sich befinde, nicht weni-
ger angenehm seye, als wo es von ihm selbs oder eigenen commilitonibus
geschehen wäre. Jch hoffe aber, daß ichs mit solchen gemüthern zu thun ha-
ben werde, die dieser sache weitläufftig erinnert zu werden nicht bedörffen.
Was das buch in der schrifft anlangt, wird zu deroselben eigenen ermessen
stehen, wozu sie am meisten lust oder worinnen sie die meiste erbauung zu
finden hoffnung haben. Nach meinem vorschlag würden sie am nützlichsten
ein buch aus dem neuen Testament sich wehlen, und zwar am besten ein
kurtzes, alldieweil mit demselben anfangs am besten zu recht zu kommen, da-
her vielleicht eine der kürtzern episteln am beqvemsten seyn möchte. Jn der
tractation werden sie auf die beyde stücke sonderlich ihre gedancken schlagen,
einmal eine versicherung des wahren verstandes zu haben, dazu nun die
media legitimae interpretationis insgesamt mit fleißiger sorgfalt zu adhi-
bir
en nöthig, und so lang zu suchen ist, daß der sensus als viel möglich ohne
einigen fernern zweiffel gefunden werde: so dann wo der buchstäbliche ver-
stand richtig, daß dann gleichsam die qvelle recht geöffnet werde, damit so
vieles von lehren und andern usibus herausgezogen werde als möglich ist.
Solte dem gethanen vorschlag nach zuweilen (dann vor ein ordinarium
wüste ichs nicht zu rathen) aus einem versiculo, der expliciret worden, eine
disposition zu einer predigt gemachet werden, wolte ichs auch nicht ohne
nutzen zu seyn achten, sonderlich wo man sich nicht so wol auf andere artificia
oratoria
darinnen befleisset, als vielmehr so zu reden demjenigen allemal
nachfolget, wohin der text in seiner natürlichen ordnung uns führet, so dann
wo man jede materie nicht viel suchet durch weiter hergeholte amplificatio-
nes
in der predigt zu extendiren, sondern vielmehr den reichthum eines je-
den texts mit fleiß heraus zu suchen und vorzulegen, wobey man hernach kei-
ne andere amplificationen nöthig haben, sondern so vieles aus denselben fin-
den wird, daß man gemeiniglich mehr mühe zu contrahiren als extendiren
bedarf. Sonderlich ist alsdenn gut, wo man alle materias theoreticas
auch so fern ad praxin ziehet, wie uns jeglicher lehr-puncten so wol eine
aufmunterung zum guten als einen kräfftigen trost geben kan; massen solche
übung leute machet, die mit ihren predigten vieles erbauen mögen. Zu al-
lem gehöret letzlich, wo nun, was in einem text gefunden worden, besehen ist,
daß jeglicher bey sich selbs gleichsam ein examen anstelle, wie sein hertz gegen
solche lehre stehe, ob er dero versiglung und zeugnüß bey sich finde, ob er das
jenige, was vorgeschrieben wird, in sich fühle, aber insgesamt was er da-
von habe oder nicht habe: dieses examen hilfft darnach alles in succum &

sangui-
z 3

ARTIC. II. SECTIO II.
daruͤber haben, wo aller orten und von jederman dieſes allerliebſte ſtudium
am angelegenlichſten getrieben wird, auch das was von andern gutes ge-
ſchiehet, jedem ſo etwa in einer andern verſamlung ſich befinde, nicht weni-
ger angenehm ſeye, als wo es von ihm ſelbs oder eigenen commilitonibus
geſchehen waͤre. Jch hoffe aber, daß ichs mit ſolchen gemuͤthern zu thun ha-
ben werde, die dieſer ſache weitlaͤufftig erinnert zu werden nicht bedoͤrffen.
Was das buch in der ſchrifft anlangt, wird zu deroſelben eigenen ermeſſen
ſtehen, wozu ſie am meiſten luſt oder worinnen ſie die meiſte erbauung zu
finden hoffnung haben. Nach meinem vorſchlag wuͤrden ſie am nuͤtzlichſten
ein buch aus dem neuen Teſtament ſich wehlen, und zwar am beſten ein
kurtzes, alldieweil mit demſelben anfangs am beſten zu recht zu kommen, da-
her vielleicht eine der kuͤrtzern epiſteln am beqvemſten ſeyn moͤchte. Jn der
tractation werden ſie auf die beyde ſtuͤcke ſonderlich ihre gedancken ſchlagen,
einmal eine verſicherung des wahren verſtandes zu haben, dazu nun die
media legitimæ interpretationis insgeſamt mit fleißiger ſorgfalt zu adhi-
bir
en noͤthig, und ſo lang zu ſuchen iſt, daß der ſenſus als viel moͤglich ohne
einigen fernern zweiffel gefunden werde: ſo dann wo der buchſtaͤbliche ver-
ſtand richtig, daß dann gleichſam die qvelle recht geoͤffnet werde, damit ſo
vieles von lehren und andern uſibus herausgezogen werde als moͤglich iſt.
Solte dem gethanen vorſchlag nach zuweilen (dann vor ein ordinarium
wuͤſte ichs nicht zu rathen) aus einem verſiculo, der expliciret worden, eine
diſpoſition zu einer predigt gemachet werden, wolte ichs auch nicht ohne
nutzen zu ſeyn achten, ſonderlich wo man ſich nicht ſo wol auf andere artificia
oratoria
darinnen befleiſſet, als vielmehr ſo zu reden demjenigen allemal
nachfolget, wohin der text in ſeiner natuͤrlichen ordnung uns fuͤhret, ſo dann
wo man jede materie nicht viel ſuchet durch weiter hergeholte amplificatio-
nes
in der predigt zu extendiren, ſondern vielmehr den reichthum eines je-
den texts mit fleiß heraus zu ſuchen und vorzulegen, wobey man hernach kei-
ne andere amplificationen noͤthig haben, ſondern ſo vieles aus denſelben fin-
den wird, daß man gemeiniglich mehr muͤhe zu contrahiren als extendiren
bedarf. Sonderlich iſt alsdenn gut, wo man alle materias theoreticas
auch ſo fern ad praxin ziehet, wie uns jeglicher lehr-puncten ſo wol eine
aufmunterung zum guten als einen kraͤfftigen troſt geben kan; maſſen ſolche
uͤbung leute machet, die mit ihren predigten vieles erbauen moͤgen. Zu al-
lem gehoͤret letzlich, wo nun, was in einem text gefunden worden, beſehen iſt,
daß jeglicher bey ſich ſelbs gleichſam ein examen anſtelle, wie ſein hertz gegen
ſolche lehre ſtehe, ob er dero verſiglung und zeugnuͤß bey ſich finde, ob er das
jenige, was vorgeſchrieben wird, in ſich fuͤhle, aber insgeſamt was er da-
von habe oder nicht habe: dieſes examen hilfft darnach alles in ſuccum &

ſangui-
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[181/0193] ARTIC. II. SECTIO II. daruͤber haben, wo aller orten und von jederman dieſes allerliebſte ſtudium am angelegenlichſten getrieben wird, auch das was von andern gutes ge- ſchiehet, jedem ſo etwa in einer andern verſamlung ſich befinde, nicht weni- ger angenehm ſeye, als wo es von ihm ſelbs oder eigenen commilitonibus geſchehen waͤre. Jch hoffe aber, daß ichs mit ſolchen gemuͤthern zu thun ha- ben werde, die dieſer ſache weitlaͤufftig erinnert zu werden nicht bedoͤrffen. Was das buch in der ſchrifft anlangt, wird zu deroſelben eigenen ermeſſen ſtehen, wozu ſie am meiſten luſt oder worinnen ſie die meiſte erbauung zu finden hoffnung haben. Nach meinem vorſchlag wuͤrden ſie am nuͤtzlichſten ein buch aus dem neuen Teſtament ſich wehlen, und zwar am beſten ein kurtzes, alldieweil mit demſelben anfangs am beſten zu recht zu kommen, da- her vielleicht eine der kuͤrtzern epiſteln am beqvemſten ſeyn moͤchte. Jn der tractation werden ſie auf die beyde ſtuͤcke ſonderlich ihre gedancken ſchlagen, einmal eine verſicherung des wahren verſtandes zu haben, dazu nun die media legitimæ interpretationis insgeſamt mit fleißiger ſorgfalt zu adhi- biren noͤthig, und ſo lang zu ſuchen iſt, daß der ſenſus als viel moͤglich ohne einigen fernern zweiffel gefunden werde: ſo dann wo der buchſtaͤbliche ver- ſtand richtig, daß dann gleichſam die qvelle recht geoͤffnet werde, damit ſo vieles von lehren und andern uſibus herausgezogen werde als moͤglich iſt. Solte dem gethanen vorſchlag nach zuweilen (dann vor ein ordinarium wuͤſte ichs nicht zu rathen) aus einem verſiculo, der expliciret worden, eine diſpoſition zu einer predigt gemachet werden, wolte ichs auch nicht ohne nutzen zu ſeyn achten, ſonderlich wo man ſich nicht ſo wol auf andere artificia oratoria darinnen befleiſſet, als vielmehr ſo zu reden demjenigen allemal nachfolget, wohin der text in ſeiner natuͤrlichen ordnung uns fuͤhret, ſo dann wo man jede materie nicht viel ſuchet durch weiter hergeholte amplificatio- nes in der predigt zu extendiren, ſondern vielmehr den reichthum eines je- den texts mit fleiß heraus zu ſuchen und vorzulegen, wobey man hernach kei- ne andere amplificationen noͤthig haben, ſondern ſo vieles aus denſelben fin- den wird, daß man gemeiniglich mehr muͤhe zu contrahiren als extendiren bedarf. Sonderlich iſt alsdenn gut, wo man alle materias theoreticas auch ſo fern ad praxin ziehet, wie uns jeglicher lehr-puncten ſo wol eine aufmunterung zum guten als einen kraͤfftigen troſt geben kan; maſſen ſolche uͤbung leute machet, die mit ihren predigten vieles erbauen moͤgen. Zu al- lem gehoͤret letzlich, wo nun, was in einem text gefunden worden, beſehen iſt, daß jeglicher bey ſich ſelbs gleichſam ein examen anſtelle, wie ſein hertz gegen ſolche lehre ſtehe, ob er dero verſiglung und zeugnuͤß bey ſich finde, ob er das jenige, was vorgeſchrieben wird, in ſich fuͤhle, aber insgeſamt was er da- von habe oder nicht habe: dieſes examen hilfft darnach alles in ſuccum & ſangui- z 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/193>, abgerufen am 25.11.2024.