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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. II. SECT. V.
sehr viele subsidia darzu gehören/ will man nicht anders mitten in dem lauff still
stehen/ und endlich erkennen/ man habe die sache weder halb noch gantz durch-
gebracht. Wo aber ein mensch vor sich siehet/ daß seine hoffnung u. verlan-
gen allein dahin ist/ seinem GOTT an seiner kirche/ sonderlich etwa meistens
bey einfältigen leuten/ zu dienen in dem predigamt: So hat derselbige fleißig
zu erwegen/ was zu solcher verrichtung und amt ihm mag dienlich seyn. Es
bestehen aber seine pfarr-verrichtungen theils in dem/ daß er junge leute in der
catechetischen erkäntnüß treulich und klüglich unterrichte/ den grund des glau-
bens zu legen/ theils in öffentlichen predigten/ und absonderlichen gelegenheiten
oder zusprüchen seinen zuhörern den wahren lebendigen glauben in das hertz zu
bringen/ und denssen früchten bey ihnen zu befördern. Wie nun hiezu eine
recht wirckliche ob wol einfältige erkäntnüß der lehr der warheit und gottselig-
keit nöthig ist/ so dann eine christliche klugheit/ daß einer wisse/ was jeglichen ge-
höre/ u. zu seiner erbauung dienlich seyn möge/ dahingegen subtile distinctio-
nes,
welche seine einfältige zuhörer nimmermehr fassen können/ und weitläuff-
tige tractatioes controversiarum zu seinem zweck wenig fordern können. Also
wäre eigentlich auf die jenige studia zu sehen/ wodurch jene intention erhal-
ten möchte werden/ damit man dermaleins dasselbe auch zu nutzen seiner an-
vertrauten gemeinde anwenden möge/ woran man seine zeit und
unkosten gewendet hat. Hiezu aber wird jeder leicht sehen/ daß vor
allen dingen eine fleißige lesung der heiligen schrifft nöthig seye/ als welche ja der
brunn ist/ aus dem unsere gantze Theologie geschöpffet werden muß. Würde
also am rathsamsten seyn/ man nehme die heilige schrifft vor die hand/ vor allen
dingen das neue Testament/ und zwar solches in der grundsprache/ und gienge
capitel nach capitel durch mit fleißiger aufmercksamkeit auf alle wort/ und mit
hertzlichem gebet. Jst etwas schwer/ und läßt sich nicht gleich wol verstehen/ so ist
rathsam/ man setze es eine zeit lang beyseits/ zeichne es wol auf/ und befleißige
sich erstlich allein sorgfältig die jenige ort zu bemercken/ worinne unsere glau-
bens-lehren und lebens-reguln deutlich enthalten sind/ solche auch recht in das
hertz zu drucken/ und allemal sein hertz dabey zu forschen/ wie man bisher sol-
che sachen gethan oder unterlassen habe/ so bald mit dem hertzlichen vorsatz was
wir lesen von uns erfordert zu werden/ willig zu thun/ und durch GOttes gna-
de also gesinnet zu werdeu. Auf daß wir fein lernen/ wie die Apostel und erste
lehrer/ ja unser liebste Heyland/ selbs gethan hat/ nemlich eher selbs thun und
an sich haben/ was man nachmal andere lehren will. Also soll man bey sich
selbs wahrnehmen/ was die beförderungen der tugenden oder etwa dero hin-
derungen seyen/ damit man/ was man an sich gelernet/ künfftig an andern wie-
derum anwenden/ und ihnen desto klüglicher rathen könne. Jch bin versichert/
wer in solcher einfalt das neue Testament erstlich (dann darnach das alte fol-

gen
a a 3

ARTIC. II. SECT. V.
ſehr viele ſubſidia darzu gehoͤren/ will man nicht anders mitten in dem lauff ſtill
ſtehen/ und endlich erkennen/ man habe die ſache weder halb noch gantz durch-
gebracht. Wo aber ein menſch vor ſich ſiehet/ daß ſeine hoffnung u. verlan-
gen allein dahin iſt/ ſeinem GOTT an ſeiner kirche/ ſonderlich etwa meiſtens
bey einfaͤltigen leuten/ zu dienen in dem predigamt: So hat derſelbige fleißig
zu erwegen/ was zu ſolcher verrichtung und amt ihm mag dienlich ſeyn. Es
beſtehen aber ſeine pfarr-verrichtungen theils in dem/ daß er junge leute in der
catechetiſchen erkaͤntnuͤß treulich und kluͤglich unterrichte/ den grund des glau-
bens zu legen/ theils in oͤffentlichen predigten/ und abſonderlichen gelegenheiten
oder zuſpruͤchen ſeinen zuhoͤrern den wahren lebendigen glauben in das hertz zu
bringen/ und dẽſſen fruͤchten bey ihnen zu befoͤrdern. Wie nun hiezu eine
recht wirckliche ob wol einfaͤltige erkaͤntnuͤß der lehr der warheit und gottſelig-
keit noͤthig iſt/ ſo dann eine chriſtliche klugheit/ daß einer wiſſe/ was jeglichen ge-
hoͤre/ u. zu ſeiner erbauung dienlich ſeyn moͤge/ dahingegen ſubtile diſtinctio-
nes,
welche ſeine einfaͤltige zuhoͤrer nimmermehr faſſen koͤnnen/ und weitlaͤuff-
tige tractatioes controverſiarum zu ſeinem zweck wenig fordern koͤnnen. Alſo
waͤre eigentlich auf die jenige ſtudia zu ſehen/ wodurch jene intention erhal-
ten moͤchte werden/ damit man dermaleins daſſelbe auch zu nutzen ſeiner an-
vertrauten gemeinde anwenden moͤge/ woran man ſeine zeit und
unkoſten gewendet hat. Hiezu aber wird jeder leicht ſehen/ daß vor
allen dingen eine fleißige leſung der heiligen ſchrifft noͤthig ſeye/ als welche ja der
brunn iſt/ aus dem unſere gantze Theologie geſchoͤpffet werden muß. Wuͤrde
alſo am rathſamſten ſeyn/ man nehme die heilige ſchrifft vor die hand/ vor allen
dingen das neue Teſtament/ und zwar ſolches in der grundſprache/ und gienge
capitel nach capitel durch mit fleißiger aufmerckſamkeit auf alle wort/ und mit
hertzlichem gebet. Jſt etwas ſchwer/ und laͤßt ſich nicht gleich wol verſtehen/ ſo iſt
rathſam/ man ſetze es eine zeit lang beyſeits/ zeichne es wol auf/ und befleißige
ſich erſtlich allein ſorgfaͤltig die jenige ort zu bemercken/ worinne unſere glau-
bens-lehren und lebens-reguln deutlich enthalten ſind/ ſolche auch recht in das
hertz zu drucken/ und allemal ſein hertz dabey zu forſchen/ wie man bisher ſol-
che ſachen gethan oder unterlaſſen habe/ ſo bald mit dem hertzlichen vorſatz was
wir leſen von uns erfordert zu werden/ willig zu thun/ und durch GOttes gna-
de alſo geſinnet zu werdeu. Auf daß wir fein lernen/ wie die Apoſtel und erſte
lehrer/ ja unſer liebſte Heyland/ ſelbs gethan hat/ nemlich eher ſelbs thun und
an ſich haben/ was man nachmal andere lehren will. Alſo ſoll man bey ſich
ſelbs wahrnehmen/ was die befoͤrderungen der tugenden oder etwa dero hin-
derungen ſeyen/ damit man/ was man an ſich gelernet/ kuͤnfftig an andern wie-
derum anwenden/ und ihnen deſto kluͤglicher rathen koͤnne. Jch bin verſichert/
wer in ſolcher einfalt das neue Teſtament erſtlich (dann darnach das alte fol-

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[189/0201] ARTIC. II. SECT. V. ſehr viele ſubſidia darzu gehoͤren/ will man nicht anders mitten in dem lauff ſtill ſtehen/ und endlich erkennen/ man habe die ſache weder halb noch gantz durch- gebracht. Wo aber ein menſch vor ſich ſiehet/ daß ſeine hoffnung u. verlan- gen allein dahin iſt/ ſeinem GOTT an ſeiner kirche/ ſonderlich etwa meiſtens bey einfaͤltigen leuten/ zu dienen in dem predigamt: So hat derſelbige fleißig zu erwegen/ was zu ſolcher verrichtung und amt ihm mag dienlich ſeyn. Es beſtehen aber ſeine pfarr-verrichtungen theils in dem/ daß er junge leute in der catechetiſchen erkaͤntnuͤß treulich und kluͤglich unterrichte/ den grund des glau- bens zu legen/ theils in oͤffentlichen predigten/ und abſonderlichen gelegenheiten oder zuſpruͤchen ſeinen zuhoͤrern den wahren lebendigen glauben in das hertz zu bringen/ und dẽſſen fruͤchten bey ihnen zu befoͤrdern. Wie nun hiezu eine recht wirckliche ob wol einfaͤltige erkaͤntnuͤß der lehr der warheit und gottſelig- keit noͤthig iſt/ ſo dann eine chriſtliche klugheit/ daß einer wiſſe/ was jeglichen ge- hoͤre/ u. zu ſeiner erbauung dienlich ſeyn moͤge/ dahingegen ſubtile diſtinctio- nes, welche ſeine einfaͤltige zuhoͤrer nimmermehr faſſen koͤnnen/ und weitlaͤuff- tige tractatioes controverſiarum zu ſeinem zweck wenig fordern koͤnnen. Alſo waͤre eigentlich auf die jenige ſtudia zu ſehen/ wodurch jene intention erhal- ten moͤchte werden/ damit man dermaleins daſſelbe auch zu nutzen ſeiner an- vertrauten gemeinde anwenden moͤge/ woran man ſeine zeit und unkoſten gewendet hat. Hiezu aber wird jeder leicht ſehen/ daß vor allen dingen eine fleißige leſung der heiligen ſchrifft noͤthig ſeye/ als welche ja der brunn iſt/ aus dem unſere gantze Theologie geſchoͤpffet werden muß. Wuͤrde alſo am rathſamſten ſeyn/ man nehme die heilige ſchrifft vor die hand/ vor allen dingen das neue Teſtament/ und zwar ſolches in der grundſprache/ und gienge capitel nach capitel durch mit fleißiger aufmerckſamkeit auf alle wort/ und mit hertzlichem gebet. Jſt etwas ſchwer/ und laͤßt ſich nicht gleich wol verſtehen/ ſo iſt rathſam/ man ſetze es eine zeit lang beyſeits/ zeichne es wol auf/ und befleißige ſich erſtlich allein ſorgfaͤltig die jenige ort zu bemercken/ worinne unſere glau- bens-lehren und lebens-reguln deutlich enthalten ſind/ ſolche auch recht in das hertz zu drucken/ und allemal ſein hertz dabey zu forſchen/ wie man bisher ſol- che ſachen gethan oder unterlaſſen habe/ ſo bald mit dem hertzlichen vorſatz was wir leſen von uns erfordert zu werden/ willig zu thun/ und durch GOttes gna- de alſo geſinnet zu werdeu. Auf daß wir fein lernen/ wie die Apoſtel und erſte lehrer/ ja unſer liebſte Heyland/ ſelbs gethan hat/ nemlich eher ſelbs thun und an ſich haben/ was man nachmal andere lehren will. Alſo ſoll man bey ſich ſelbs wahrnehmen/ was die befoͤrderungen der tugenden oder etwa dero hin- derungen ſeyen/ damit man/ was man an ſich gelernet/ kuͤnfftig an andern wie- derum anwenden/ und ihnen deſto kluͤglicher rathen koͤnne. Jch bin verſichert/ wer in ſolcher einfalt das neue Teſtament erſtlich (dann darnach das alte fol- gen a a 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/201>, abgerufen am 24.11.2024.