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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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Das siebende Capitel.
die solche schrifft lesen werden/ hertzen diejenige wahrheit/ welche sich darinnen vor-
stellet/ von dieser nothwendigen Christen pflicht/ kräfftiglich bezeugen/ aber auch zu-
gleich wircken wolle/ (wie Hochfürstl. Durchl. selbs in dero Christl. schreiben nöthig er-
kennen und verlangen/) daß der gehorsam erfolge/ u. man nachmals des lesens frucht
selbs an dem leben u. wandel sehen möge. Welches von so hohen als andern stands
personen auf gleiche weise erfordert wird/ und jene fast nachdrücklicher ihre pflicht
in den büchern lesen/ als von den ihrigen mündlich anhören: weilen die bücher ohne
unterscheid und partheyligkeit/ als welche nicht wissen/ wer sie lieset/ allen einerley
wahrheit vorhalten. Wie ich auch erinnere/ von eben demjenigen/ welcher dieses
buch übersetzet hat/ gehöret zu haben/ daß selbs der autor desselben/ Baxter/ vor dem
itzigen König in Engelland gepredigt/ und sobald in dem eingang angefangen zu
fragen/ wer wol die elendeste und miserabelste in der welt wären/ und nachdem er
unterschiedliche arten der insgemein elend geachteten leute erstlich genennet/ und
dero elend etwas betrachtet/ letzlich geschlossen/ der König wäre solches. Denn weil
die warheit wol das höchste und nützlichste gut in dem menschlichen leben wäre/ so
müßte ein solches hohes haupt fast allein desselbigen gutes entrathen/ indem ihm
niemand die wahrheit ohnverheelt zu sagen getrauete; dahero er sich dessen erbar-
men/ und diesmal die wahrheit ihm vorstellen wolte: Darauf er eine nach-
drückliche predigt von seiner hohen pflicht gethan/ aber bald darnach seine cantzel bey
Hoff quittiren müssen. Hingegen haben/ wie oben gemeldet/ die bücher diesen vor-
theil/ daß sie niemand schmeicheln/ sondern als die spiegel sind/ in denen ohn unter-
schied der person ieglicher sein angesicht/ wie es ist/ antrifft/ und sehen kan. Das
buch aber selbs nochmal betreffend/ so ist so wol die materie/ welche es vorträget/ als
die art der tractation eine unter allen denen/ welche zu der praxi des Christenthums
gehören/ nöthigste und nützlichste: Jndem sie nicht bleibet bey der reformation unsers
eusserlichen lebens/ noch allein erfordert die verleugnung der groben eitelkeit u. üp-
pigkeit der welt/ in dero pracht/ wollust und auch von den klugen Heyden erkanten u.
verachteten lastern/ oder doch vanitäten/ die eine jegliche seele/ wo sie nur ein wenig
anfängt/ eine jede sache nicht nach der gemeinen einbildung/ sondern wie sie in sich selbs
seye/ einzusehen/ zugleich zu eckeln anfängt/ hingegen wo dieses nicht ist/ noch kein an-
fang eines wahren Christenthums gemachet finde: sondern sie gehet gantz tieff in das
hertz hinein/ u. wil dasselbige reinigen; wenn nicht nur die verleugnung des gebrauchs
der dinge/ die ausser uns sind/ u. worinnen die welt/ nemlich augenlust/ fleisches lust u.
hoffärtiges leben sich hervor thut/ (nach welcher regel dennoch auch schon vieles/ was
unser heutiges alamode Christenthum noch paßiren lässet/ u. der zeit/ ort/ gelegenheit/
stand u. andern umstände/ wider die regeln Christi nachgesehen haben will/ hin- und
abgeleget werden muß) sondern auch die verleugnung des innersten der eigenliebe/
begierden/ verlangens u. willens erfordert wird. Welche verleugnung desjenigen/
so uns so innerst als unser leben selbsten ist/ gewißlich mit nicht weniger gewalt her-
gehet/ als einige übung in der welt gefunden werden mag/ darinnen der mensch sich
selbs und seinen begierden gewalt anthun muß. Es ist aber auch alles solches blos-

ser

Das ſiebende Capitel.
die ſolche ſchrifft leſen werden/ hertzen diejenige wahrheit/ welche ſich darinnen vor-
ſtellet/ von dieſer nothwendigen Chriſten pflicht/ kraͤfftiglich bezeugen/ aber auch zu-
gleich wircken wolle/ (wie Hochfuͤrſtl. Durchl. ſelbs in deꝛo Chriſtl. ſchreiben noͤthig er-
kennen und verlangen/) daß der gehorſam erfolge/ u. man nachmals des leſens frucht
ſelbs an dem leben u. wandel ſehen moͤge. Welches von ſo hohen als andern ſtands
perſonen auf gleiche weiſe erfordert wird/ und jene faſt nachdruͤcklicher ihre pflicht
in den buͤchern leſen/ als von den ihrigen muͤndlich anhoͤren: weilen die buͤcher ohne
unterſcheid und partheyligkeit/ als welche nicht wiſſen/ wer ſie lieſet/ allen einerley
wahrheit vorhalten. Wie ich auch erinnere/ von eben demjenigen/ welcher dieſes
buch uͤberſetzet hat/ gehoͤret zu haben/ daß ſelbs der autor deſſelben/ Baxter/ vor dem
itzigen Koͤnig in Engelland gepredigt/ und ſobald in dem eingang angefangen zu
fragen/ wer wol die elendeſte und miſerabelſte in der welt waͤren/ und nachdem er
unterſchiedliche arten der insgemein elend geachteten leute erſtlich genennet/ und
dero elend etwas betrachtet/ letzlich geſchloſſen/ der Koͤnig waͤre ſolches. Denn weil
die warheit wol das hoͤchſte und nuͤtzlichſte gut in dem menſchlichen leben waͤre/ ſo
muͤßte ein ſolches hohes haupt faſt allein deſſelbigen gutes entrathen/ indem ihm
niemand die wahrheit ohnverheelt zu ſagen getrauete; dahero er ſich deſſen erbar-
men/ und diesmal die wahrheit ihm vorſtellen wolte: Darauf er eine nach-
druͤckliche predigt von ſeiner hohen pflicht gethan/ abeꝛ bald darnach ſeine cantzel bey
Hoff quittiren muͤſſen. Hingegen haben/ wie oben gemeldet/ die buͤcher dieſen vor-
theil/ daß ſie niemand ſchmeicheln/ ſondern als die ſpiegel ſind/ in denen ohn unter-
ſchied der perſon ieglicher ſein angeſicht/ wie es iſt/ antrifft/ und ſehen kan. Das
buch aber ſelbs nochmal betreffend/ ſo iſt ſo wol die materie/ welche es vortraͤget/ als
die art der tractation eine unter allen denen/ welche zu der praxi des Chriſtenthums
gehoͤren/ noͤthigſte und nuͤtzlichſte: Jndem ſie nicht bleibet bey der reformation unſers
euſſerlichen lebens/ noch allein erfordert die verleugnung der groben eitelkeit u. uͤp-
pigkeit der welt/ in dero pracht/ wolluſt und auch von den klugen Heyden erkanten u.
verachteten laſtern/ oder doch vanitaͤten/ die eine jegliche ſeele/ wo ſie nur ein wenig
anfaͤngt/ eine jede ſache nicht nach deꝛ gemeinen einbildung/ ſondeꝛn wie ſie in ſich ſelbs
ſeye/ einzuſehen/ zugleich zu eckeln anfaͤngt/ hingegen wo dieſes nicht iſt/ noch kein an-
fang eines wahren Chriſtenthums gemachet finde: ſondern ſie gehet gantz tieff in das
hertz hinein/ u. wil daſſelbige reinigen; wenn nicht nur die verleugnung des gebrauchs
der dinge/ die auſſer uns ſind/ u. worinnen die welt/ nemlich augenluſt/ fleiſches luſt u.
hoffaͤrtiges leben ſich hervoꝛ thut/ (nach welcheꝛ regel dennoch auch ſchon vieles/ was
unſer heutiges alamode Chriſtenthum noch paßiren laͤſſet/ u. der zeit/ ort/ gelegenheit/
ſtand u. andern umſtaͤnde/ wider die regeln Chriſti nachgeſehen haben will/ hin- und
abgeleget werden muß) ſondern auch die verleugnung des innerſten der eigenliebe/
begierden/ verlangens u. willens erfordert wird. Welche verleugnung desjenigen/
ſo uns ſo innerſt als unſer leben ſelbſten iſt/ gewißlich mit nicht weniger gewalt her-
gehet/ als einige uͤbung in der welt gefunden werden mag/ darinnen der menſch ſich
ſelbs und ſeinen begierden gewalt anthun muß. Es iſt aber auch alles ſolches bloſ-

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[440/0452] Das ſiebende Capitel. die ſolche ſchrifft leſen werden/ hertzen diejenige wahrheit/ welche ſich darinnen vor- ſtellet/ von dieſer nothwendigen Chriſten pflicht/ kraͤfftiglich bezeugen/ aber auch zu- gleich wircken wolle/ (wie Hochfuͤrſtl. Durchl. ſelbs in deꝛo Chriſtl. ſchreiben noͤthig er- kennen und verlangen/) daß der gehorſam erfolge/ u. man nachmals des leſens frucht ſelbs an dem leben u. wandel ſehen moͤge. Welches von ſo hohen als andern ſtands perſonen auf gleiche weiſe erfordert wird/ und jene faſt nachdruͤcklicher ihre pflicht in den buͤchern leſen/ als von den ihrigen muͤndlich anhoͤren: weilen die buͤcher ohne unterſcheid und partheyligkeit/ als welche nicht wiſſen/ wer ſie lieſet/ allen einerley wahrheit vorhalten. Wie ich auch erinnere/ von eben demjenigen/ welcher dieſes buch uͤberſetzet hat/ gehoͤret zu haben/ daß ſelbs der autor deſſelben/ Baxter/ vor dem itzigen Koͤnig in Engelland gepredigt/ und ſobald in dem eingang angefangen zu fragen/ wer wol die elendeſte und miſerabelſte in der welt waͤren/ und nachdem er unterſchiedliche arten der insgemein elend geachteten leute erſtlich genennet/ und dero elend etwas betrachtet/ letzlich geſchloſſen/ der Koͤnig waͤre ſolches. Denn weil die warheit wol das hoͤchſte und nuͤtzlichſte gut in dem menſchlichen leben waͤre/ ſo muͤßte ein ſolches hohes haupt faſt allein deſſelbigen gutes entrathen/ indem ihm niemand die wahrheit ohnverheelt zu ſagen getrauete; dahero er ſich deſſen erbar- men/ und diesmal die wahrheit ihm vorſtellen wolte: Darauf er eine nach- druͤckliche predigt von ſeiner hohen pflicht gethan/ abeꝛ bald darnach ſeine cantzel bey Hoff quittiren muͤſſen. Hingegen haben/ wie oben gemeldet/ die buͤcher dieſen vor- theil/ daß ſie niemand ſchmeicheln/ ſondern als die ſpiegel ſind/ in denen ohn unter- ſchied der perſon ieglicher ſein angeſicht/ wie es iſt/ antrifft/ und ſehen kan. Das buch aber ſelbs nochmal betreffend/ ſo iſt ſo wol die materie/ welche es vortraͤget/ als die art der tractation eine unter allen denen/ welche zu der praxi des Chriſtenthums gehoͤren/ noͤthigſte und nuͤtzlichſte: Jndem ſie nicht bleibet bey der reformation unſers euſſerlichen lebens/ noch allein erfordert die verleugnung der groben eitelkeit u. uͤp- pigkeit der welt/ in dero pracht/ wolluſt und auch von den klugen Heyden erkanten u. verachteten laſtern/ oder doch vanitaͤten/ die eine jegliche ſeele/ wo ſie nur ein wenig anfaͤngt/ eine jede ſache nicht nach deꝛ gemeinen einbildung/ ſondeꝛn wie ſie in ſich ſelbs ſeye/ einzuſehen/ zugleich zu eckeln anfaͤngt/ hingegen wo dieſes nicht iſt/ noch kein an- fang eines wahren Chriſtenthums gemachet finde: ſondern ſie gehet gantz tieff in das hertz hinein/ u. wil daſſelbige reinigen; wenn nicht nur die verleugnung des gebrauchs der dinge/ die auſſer uns ſind/ u. worinnen die welt/ nemlich augenluſt/ fleiſches luſt u. hoffaͤrtiges leben ſich hervoꝛ thut/ (nach welcheꝛ regel dennoch auch ſchon vieles/ was unſer heutiges alamode Chriſtenthum noch paßiren laͤſſet/ u. der zeit/ ort/ gelegenheit/ ſtand u. andern umſtaͤnde/ wider die regeln Chriſti nachgeſehen haben will/ hin- und abgeleget werden muß) ſondern auch die verleugnung des innerſten der eigenliebe/ begierden/ verlangens u. willens erfordert wird. Welche verleugnung desjenigen/ ſo uns ſo innerſt als unſer leben ſelbſten iſt/ gewißlich mit nicht weniger gewalt her- gehet/ als einige uͤbung in der welt gefunden werden mag/ darinnen der menſch ſich ſelbs und ſeinen begierden gewalt anthun muß. Es iſt aber auch alles ſolches bloſ- ſer

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/452>, abgerufen am 22.11.2024.