Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.
ARTIC. I. SECTIO XIV. zu reinigen, lebet in einer wahrhafftigen verleugnung seiner selbs und wei-set in seinem gantzen wandel, daß man in der that sehe, es seye ihm sein ei- gener nutzen, ehre, lust und willen nicht angelegen, sondern allein dieses, wie er GOTT gehorsam werden und dem nechsten sich zum opffer dargeben möge. Wo, sage ich, ein recht glaubiger Christ einen solchen menschen er- kennet, ob er wol sihet, daß er in einer andern irrglaubigen gemeinde ste- het, ja auch einigen irrthumen beypflichtet, aber dabey gewar wird, daß keine boßheit da seye, sondern er sich seiner meinung nach versichert halte, er glaube göttlicher warheit, und daher bereit wäre, wo er finden könte, daß er irrte, und wir hingegen recht hätten, der warheit auch zu weichen, so mag er wol nach dem urtheil der liebe denselben für ein kind seines himm- lischen vaters achten, zwar für seine mehrere erleuchtung beten, dieselbe verlangen und wo er etwas dazu zu thun vermöchte, solche liebe ihm auch dar- innen erweisen, aber ohne erachtet dessen, so sehe ich nicht, wie er nicht mit ihm auch in solchem stande in einer christlichen gemeinschafft leben könte. Jch rede widerum nicht von der kirchlichen gemeinschafft, mit ihm seinem re- ligions exercitio abzuwarten, viel weniger ihm etwas seines irrthums bey- bringen zu lassen, dann solche seine fehler hat er mit erbarmender liebe anzu- sehen, und durchaus sie nicht zu billichen, sondern von anderer gemein- schafft, daß er gutes von ihm halte, solches an ihm lobe, demselben exem- pel nachfolge, und also, ohne was die communionem Ecclesiasticam an- langt, mit ihm umgehe, wie mit andern frommen christen. Solche ge- meinschafft mag ihm nicht verdacht werden, und soll das urtheil der liebe auf so viele zeugnüssen des glaubens gegründet, ihn vor ein kind GOttes zu erkennen mehr, als die ansehung seines irrthums allen seinen glauben und dessen früchten vor heucheley zu verdammen, ihn bewegen. Dann obs wol wahr ist, daß er nicht unfehlbar gewiß ist, noch auch so eigenlich in das hertz sehen kan, wie schwer bey solchem subjecto der irrthum, vincibilis oder invicibilis, seye, so wird doch solches zu einem urtheil der liebe auch nicht erfordert; Und sollen wir ja dieglieder unserer gemeinde und glaubens-ge- nossen für brüder und kinder unsers himmlischen vaters aus der blossen prae- sumtion halten, weil sie der wahren lehr beypflichten, wo wir nicht eben deroselben offenbare boßheit und laster sehen; da doch diese praesumtion ohne weitere untersuchung dero glaubens beschaffenheit und früchten, nicht nur allein eben so wenig unbetrüglich, sondern viel schwächer ist, als die er- käntnüß so vieles guten bey jenen. Und wie ich dann nicht sündige, da ich ein glied unser evangelischen kirchen, von dem mir nichts widriges bewußt noch sein zustand weiter bekant ist, vor einen wahren christen und kind GOt- tes achte (obs wol seyn kan, daß er ein solcher nicht ist) wol aber sündigen würde,
ARTIC. I. SECTIO XIV. zu reinigen, lebet in einer wahrhafftigen verleugnung ſeiner ſelbs und wei-ſet in ſeinem gantzen wandel, daß man in der that ſehe, es ſeye ihm ſein ei- gener nutzen, ehre, luſt und willen nicht angelegen, ſondern allein dieſes, wie er GOTT gehorſam werden und dem nechſten ſich zum opffer dargeben moͤge. Wo, ſage ich, ein recht glaubiger Chriſt einen ſolchen menſchen er- kennet, ob er wol ſihet, daß er in einer andern irrglaubigen gemeinde ſte- het, ja auch einigen irrthumen beypflichtet, aber dabey gewar wird, daß keine boßheit da ſeye, ſondern er ſich ſeiner meinung nach verſichert halte, er glaube goͤttlicher warheit, und daher bereit waͤre, wo er finden koͤnte, daß er irrte, und wir hingegen recht haͤtten, der warheit auch zu weichen, ſo mag er wol nach dem urtheil der liebe denſelben fuͤr ein kind ſeines himm- liſchen vaters achten, zwar fuͤr ſeine mehrere erleuchtung beten, dieſelbe verlangen und wo er etwas dazu zu thun vermoͤchte, ſolche liebe ihm auch dar- innen erweiſen, aber ohne erachtet deſſen, ſo ſehe ich nicht, wie er nicht mit ihm auch in ſolchem ſtande in einer chriſtlichen gemeinſchafft leben koͤnte. Jch rede widerum nicht von der kirchlichen gemeinſchafft, mit ihm ſeinem re- ligions exercitio abzuwarten, viel weniger ihm etwas ſeines irrthums bey- bringen zu laſſen, dann ſolche ſeine fehler hat er mit erbarmender liebe anzu- ſehen, und durchaus ſie nicht zu billichen, ſondern von anderer gemein- ſchafft, daß er gutes von ihm halte, ſolches an ihm lobe, demſelben exem- pel nachfolge, und alſo, ohne was die communionem Eccleſiaſticam an- langt, mit ihm umgehe, wie mit andern frommen chriſten. Solche ge- meinſchafft mag ihm nicht verdacht werden, und ſoll das urtheil der liebe auf ſo viele zeugnuͤſſen des glaubens gegruͤndet, ihn vor ein kind GOttes zu erkennen mehr, als die anſehung ſeines irrthums allen ſeinen glauben und deſſen fruͤchten vor heucheley zu verdammen, ihn bewegen. Dann obs wol wahr iſt, daß er nicht unfehlbar gewiß iſt, noch auch ſo eigenlich in das hertz ſehen kan, wie ſchwer bey ſolchem ſubjecto der irrthum, vincibilis oder invicibilis, ſeye, ſo wird doch ſolches zu einem urtheil der liebe auch nicht erfordert; Und ſollen wir ja dieglieder unſerer gemeinde und glaubens-ge- noſſen fuͤr bruͤder und kinder unſers himmliſchen vaters aus der bloſſen præ- ſumtion halten, weil ſie der wahren lehr beypflichten, wo wir nicht eben deroſelben offenbare boßheit und laſter ſehen; da doch dieſe præſumtion ohne weitere unterſuchung dero glaubens beſchaffenheit und fruͤchten, nicht nur allein eben ſo wenig unbetruͤglich, ſondern viel ſchwaͤcher iſt, als die er- kaͤntnuͤß ſo vieles guten bey jenen. Und wie ich dann nicht ſuͤndige, da ich ein glied unſer evangeliſchen kirchen, von dem mir nichts widriges bewußt noch ſein zuſtand weiter bekant iſt, vor einen wahren chriſten und kind GOt- tes achte (obs wol ſeyn kan, daß er ein ſolcher nicht iſt) wol aber ſuͤndigen wuͤrde,
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0083" n="71"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">ARTIC. I. SECTIO XIV.</hi></hi></fw><lb/> zu reinigen, lebet in einer wahrhafftigen verleugnung ſeiner ſelbs und wei-<lb/> ſet in ſeinem gantzen wandel, daß man in der that ſehe, es ſeye ihm ſein ei-<lb/> gener nutzen, ehre, luſt und willen nicht angelegen, ſondern allein dieſes,<lb/> wie er GOTT gehorſam werden und dem nechſten ſich zum opffer dargeben<lb/> moͤge. Wo, ſage ich, ein recht glaubiger Chriſt einen ſolchen menſchen er-<lb/> kennet, ob er wol ſihet, daß er in einer andern irrglaubigen gemeinde ſte-<lb/> het, ja auch einigen irrthumen beypflichtet, aber dabey gewar wird, daß<lb/> keine boßheit da ſeye, ſondern er ſich ſeiner meinung nach verſichert halte,<lb/> er glaube goͤttlicher warheit, und daher bereit waͤre, wo er finden koͤnte,<lb/> daß er irrte, und wir hingegen recht haͤtten, der warheit auch zu weichen,<lb/> ſo mag er wol nach dem urtheil der liebe denſelben fuͤr ein kind ſeines himm-<lb/> liſchen vaters achten, zwar fuͤr ſeine mehrere erleuchtung beten, dieſelbe<lb/> verlangen und wo er etwas dazu zu thun vermoͤchte, ſolche liebe ihm auch dar-<lb/> innen erweiſen, aber ohne erachtet deſſen, ſo ſehe ich nicht, wie er nicht mit ihm<lb/> auch in ſolchem ſtande in einer chriſtlichen gemeinſchafft leben koͤnte. Jch<lb/> rede widerum nicht von der kirchlichen gemeinſchafft, mit ihm ſeinem re-<lb/> ligions <hi rendition="#aq">exercitio</hi> abzuwarten, viel weniger ihm etwas ſeines irrthums bey-<lb/> bringen zu laſſen, dann ſolche ſeine fehler hat er mit erbarmender liebe anzu-<lb/> ſehen, und durchaus ſie nicht zu billichen, ſondern von anderer gemein-<lb/> ſchafft, daß er gutes von ihm halte, ſolches an ihm lobe, demſelben exem-<lb/> pel nachfolge, und alſo, ohne was die <hi rendition="#aq">communionem Eccleſiaſticam</hi> an-<lb/> langt, mit ihm umgehe, wie mit andern frommen chriſten. Solche ge-<lb/> meinſchafft mag ihm nicht verdacht werden, und ſoll das urtheil der liebe<lb/> auf ſo viele zeugnuͤſſen des glaubens gegruͤndet, ihn vor ein kind GOttes<lb/> zu erkennen mehr, als die anſehung ſeines irrthums allen ſeinen glauben und<lb/> deſſen fruͤchten vor heucheley zu verdammen, ihn bewegen. Dann obs wol<lb/> wahr iſt, daß er nicht unfehlbar gewiß iſt, noch auch ſo eigenlich in das<lb/> hertz ſehen kan, wie ſchwer bey ſolchem <hi rendition="#aq">ſubjecto</hi> der irrthum, <hi rendition="#aq">vincibilis</hi> oder<lb/><hi rendition="#aq">invicibilis,</hi> ſeye, ſo wird doch ſolches zu einem urtheil der liebe auch nicht<lb/> erfordert; Und ſollen wir ja dieglieder unſerer gemeinde und glaubens-ge-<lb/> noſſen fuͤr bruͤder und kinder unſers himmliſchen vaters aus der bloſſen <hi rendition="#aq">præ-<lb/> ſumtion</hi> halten, weil ſie der wahren lehr beypflichten, wo wir nicht eben<lb/> deroſelben offenbare boßheit und laſter ſehen; da doch dieſe <hi rendition="#aq">præſumtion</hi><lb/> ohne weitere unterſuchung dero glaubens beſchaffenheit und fruͤchten, nicht<lb/> nur allein eben ſo wenig unbetruͤglich, ſondern viel ſchwaͤcher iſt, als die er-<lb/> kaͤntnuͤß ſo vieles guten bey jenen. Und wie ich dann nicht ſuͤndige, da ich<lb/> ein glied unſer evangeliſchen kirchen, von dem mir nichts widriges bewußt<lb/> noch ſein zuſtand weiter bekant iſt, vor einen wahren chriſten und kind GOt-<lb/> tes achte (obs wol ſeyn kan, daß er ein ſolcher nicht iſt) wol aber ſuͤndigen<lb/> <fw place="bottom" type="catch">wuͤrde,</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0083]
ARTIC. I. SECTIO XIV.
zu reinigen, lebet in einer wahrhafftigen verleugnung ſeiner ſelbs und wei-
ſet in ſeinem gantzen wandel, daß man in der that ſehe, es ſeye ihm ſein ei-
gener nutzen, ehre, luſt und willen nicht angelegen, ſondern allein dieſes,
wie er GOTT gehorſam werden und dem nechſten ſich zum opffer dargeben
moͤge. Wo, ſage ich, ein recht glaubiger Chriſt einen ſolchen menſchen er-
kennet, ob er wol ſihet, daß er in einer andern irrglaubigen gemeinde ſte-
het, ja auch einigen irrthumen beypflichtet, aber dabey gewar wird, daß
keine boßheit da ſeye, ſondern er ſich ſeiner meinung nach verſichert halte,
er glaube goͤttlicher warheit, und daher bereit waͤre, wo er finden koͤnte,
daß er irrte, und wir hingegen recht haͤtten, der warheit auch zu weichen,
ſo mag er wol nach dem urtheil der liebe denſelben fuͤr ein kind ſeines himm-
liſchen vaters achten, zwar fuͤr ſeine mehrere erleuchtung beten, dieſelbe
verlangen und wo er etwas dazu zu thun vermoͤchte, ſolche liebe ihm auch dar-
innen erweiſen, aber ohne erachtet deſſen, ſo ſehe ich nicht, wie er nicht mit ihm
auch in ſolchem ſtande in einer chriſtlichen gemeinſchafft leben koͤnte. Jch
rede widerum nicht von der kirchlichen gemeinſchafft, mit ihm ſeinem re-
ligions exercitio abzuwarten, viel weniger ihm etwas ſeines irrthums bey-
bringen zu laſſen, dann ſolche ſeine fehler hat er mit erbarmender liebe anzu-
ſehen, und durchaus ſie nicht zu billichen, ſondern von anderer gemein-
ſchafft, daß er gutes von ihm halte, ſolches an ihm lobe, demſelben exem-
pel nachfolge, und alſo, ohne was die communionem Eccleſiaſticam an-
langt, mit ihm umgehe, wie mit andern frommen chriſten. Solche ge-
meinſchafft mag ihm nicht verdacht werden, und ſoll das urtheil der liebe
auf ſo viele zeugnuͤſſen des glaubens gegruͤndet, ihn vor ein kind GOttes
zu erkennen mehr, als die anſehung ſeines irrthums allen ſeinen glauben und
deſſen fruͤchten vor heucheley zu verdammen, ihn bewegen. Dann obs wol
wahr iſt, daß er nicht unfehlbar gewiß iſt, noch auch ſo eigenlich in das
hertz ſehen kan, wie ſchwer bey ſolchem ſubjecto der irrthum, vincibilis oder
invicibilis, ſeye, ſo wird doch ſolches zu einem urtheil der liebe auch nicht
erfordert; Und ſollen wir ja dieglieder unſerer gemeinde und glaubens-ge-
noſſen fuͤr bruͤder und kinder unſers himmliſchen vaters aus der bloſſen præ-
ſumtion halten, weil ſie der wahren lehr beypflichten, wo wir nicht eben
deroſelben offenbare boßheit und laſter ſehen; da doch dieſe præſumtion
ohne weitere unterſuchung dero glaubens beſchaffenheit und fruͤchten, nicht
nur allein eben ſo wenig unbetruͤglich, ſondern viel ſchwaͤcher iſt, als die er-
kaͤntnuͤß ſo vieles guten bey jenen. Und wie ich dann nicht ſuͤndige, da ich
ein glied unſer evangeliſchen kirchen, von dem mir nichts widriges bewußt
noch ſein zuſtand weiter bekant iſt, vor einen wahren chriſten und kind GOt-
tes achte (obs wol ſeyn kan, daß er ein ſolcher nicht iſt) wol aber ſuͤndigen
wuͤrde,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/83 |
| Zitationshilfe: | Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/83>, abgerufen am 25.11.2024. |
