von Deiner Bella! Du siehst ja, daß ich hier fest¬ gewachsen bin. O Du Liebe, Holde, Angebetete! Melitta, Süße! einen Kuß, einen einzigen Kuß! Und Du willst fort, jetzt fort -- aber was ist das? was will die braune Hexe? Nein, nein -- Du bist nicht Melitta!"
Oswald stützte sich auf den Ellbogen und starrte schlaftrunken in das braune Gesicht, das sich über ihn beugte: "Was willst Du von mir?"
"Nichts Schlimmes, schmucker, junger Herr! Sah den jungen Herrn liegen, wußte nicht, ob schlafend oder todt; ist gefährlich, zu schlafen im Wald am Sumpfes¬ rand, wenn man's nicht gewohnt ist von Kindesbeinen."
Oswald, der sich wieder vollkommen zurechtgefun¬ den hatte, betrachtete jetzt das Weib, das vor ihm stand, genauer und erkannte dann alsbald in ihr eine jener Zigeunerinnen, wie sie hier zu Lande nicht selten, wahrsagend, hausirend, musicirend, bettelnd, gelegentlich auch stehlend, von Dorf zu Dorf und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen. Diese hier mochte nach dem Feuer ihrer dunklen Augen, den runden halbnackten Armen und der straffen Haltung des schlanken hohen Leibes zu schließen, zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre zählen; aber Wind und Wetter, Hunger und Kummer, vielleicht auch schlimme Leidenschaften, hatten
von Deiner Bella! Du ſiehſt ja, daß ich hier feſt¬ gewachſen bin. O Du Liebe, Holde, Angebetete! Melitta, Süße! einen Kuß, einen einzigen Kuß! Und Du willſt fort, jetzt fort — aber was iſt das? was will die braune Hexe? Nein, nein — Du biſt nicht Melitta!“
Oswald ſtützte ſich auf den Ellbogen und ſtarrte ſchlaftrunken in das braune Geſicht, das ſich über ihn beugte: „Was willſt Du von mir?“
„Nichts Schlimmes, ſchmucker, junger Herr! Sah den jungen Herrn liegen, wußte nicht, ob ſchlafend oder todt; iſt gefährlich, zu ſchlafen im Wald am Sumpfes¬ rand, wenn man's nicht gewohnt iſt von Kindesbeinen.“
Oswald, der ſich wieder vollkommen zurechtgefun¬ den hatte, betrachtete jetzt das Weib, das vor ihm ſtand, genauer und erkannte dann alsbald in ihr eine jener Zigeunerinnen, wie ſie hier zu Lande nicht ſelten, wahrſagend, hauſirend, muſicirend, bettelnd, gelegentlich auch ſtehlend, von Dorf zu Dorf und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen. Dieſe hier mochte nach dem Feuer ihrer dunklen Augen, den runden halbnackten Armen und der ſtraffen Haltung des ſchlanken hohen Leibes zu ſchließen, zwiſchen fünfundzwanzig und dreißig Jahre zählen; aber Wind und Wetter, Hunger und Kummer, vielleicht auch ſchlimme Leidenſchaften, hatten
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von Deiner Bella! Du ſiehſt ja, daß ich hier feſt¬
gewachſen bin. O Du Liebe, Holde, Angebetete!
Melitta, Süße! einen Kuß, einen einzigen Kuß! Und
Du willſt fort, jetzt fort — aber was iſt das? was
will die braune Hexe? Nein, nein — Du biſt nicht
Melitta!“
Oswald ſtützte ſich auf den Ellbogen und ſtarrte
ſchlaftrunken in das braune Geſicht, das ſich über ihn
beugte: „Was willſt Du von mir?“
„Nichts Schlimmes, ſchmucker, junger Herr! Sah
den jungen Herrn liegen, wußte nicht, ob ſchlafend oder
todt; iſt gefährlich, zu ſchlafen im Wald am Sumpfes¬
rand, wenn man's nicht gewohnt iſt von Kindesbeinen.“
Oswald, der ſich wieder vollkommen zurechtgefun¬
den hatte, betrachtete jetzt das Weib, das vor ihm
ſtand, genauer und erkannte dann alsbald in ihr eine
jener Zigeunerinnen, wie ſie hier zu Lande nicht ſelten,
wahrſagend, hauſirend, muſicirend, bettelnd, gelegentlich
auch ſtehlend, von Dorf zu Dorf und von Jahrmarkt
zu Jahrmarkt ziehen. Dieſe hier mochte nach dem
Feuer ihrer dunklen Augen, den runden halbnackten
Armen und der ſtraffen Haltung des ſchlanken hohen
Leibes zu ſchließen, zwiſchen fünfundzwanzig und dreißig
Jahre zählen; aber Wind und Wetter, Hunger und
Kummer, vielleicht auch ſchlimme Leidenſchaften, hatten
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/146>, abgerufen am 26.06.2024.
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