Als ich am andern Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Es war ein heller, kühler Morgen und Harald ging mit seinen Gästen auf die Jagd. Ich war froh darüber; so konnte ihm doch Mariens Flucht bis zum Abend wenigstens ver¬ schwiegen werden. Den Leuten freilich mußte ich schon gegen Mittag sagen, daß Fräulein Marie nir¬ gends zu finden sei, und ob sie sie nicht gesehen hät¬ ten? Die waren nicht wenig erschrocken, denn da war Keiner, der das sanfte, schöne Mädchen nicht gern ge¬ habt hätte. Sie durchsuchten das Haus, die umlie¬ gende Gegend, den Wald bis zum Strande und selbst den Wallgraben, denn daß sich die Aermste das Leben genommen habe, darüber waren sie Alle einig.
Spät am Abend kam Harald zurück. Er war allein. Als er in das Haus trat, sah er auf den ersten Blick an den verstörten Gesichtern der Leute, daß etwas vorgefallen sein müsse. Sein böses Gewissen sagte ihm sogleich, was. "Ist sie todt?" fragte er und wurde weiß wie Kalk. "Wir wissen es nicht, Herr," sagte der alte Jochen; "wir haben den ganzen Tag gesucht, aber haben sie noch nicht ge¬ funden."
Er ging, ohne ein Wort zu erwiedern, an den Leuten vorbei nach seinem Zimmer. Als er in der
Als ich am andern Morgen erwachte, ſtand die Sonne ſchon hoch am Himmel. Es war ein heller, kühler Morgen und Harald ging mit ſeinen Gäſten auf die Jagd. Ich war froh darüber; ſo konnte ihm doch Mariens Flucht bis zum Abend wenigſtens ver¬ ſchwiegen werden. Den Leuten freilich mußte ich ſchon gegen Mittag ſagen, daß Fräulein Marie nir¬ gends zu finden ſei, und ob ſie ſie nicht geſehen hät¬ ten? Die waren nicht wenig erſchrocken, denn da war Keiner, der das ſanfte, ſchöne Mädchen nicht gern ge¬ habt hätte. Sie durchſuchten das Haus, die umlie¬ gende Gegend, den Wald bis zum Strande und ſelbſt den Wallgraben, denn daß ſich die Aermſte das Leben genommen habe, darüber waren ſie Alle einig.
Spät am Abend kam Harald zurück. Er war allein. Als er in das Haus trat, ſah er auf den erſten Blick an den verſtörten Geſichtern der Leute, daß etwas vorgefallen ſein müſſe. Sein böſes Gewiſſen ſagte ihm ſogleich, was. „Iſt ſie todt?“ fragte er und wurde weiß wie Kalk. „Wir wiſſen es nicht, Herr,“ ſagte der alte Jochen; „wir haben den ganzen Tag geſucht, aber haben ſie noch nicht ge¬ funden.“
Er ging, ohne ein Wort zu erwiedern, an den Leuten vorbei nach ſeinem Zimmer. Als er in der
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Als ich am andern Morgen erwachte, ſtand die
Sonne ſchon hoch am Himmel. Es war ein heller,
kühler Morgen und Harald ging mit ſeinen Gäſten
auf die Jagd. Ich war froh darüber; ſo konnte ihm
doch Mariens Flucht bis zum Abend wenigſtens ver¬
ſchwiegen werden. Den Leuten freilich mußte ich
ſchon gegen Mittag ſagen, daß Fräulein Marie nir¬
gends zu finden ſei, und ob ſie ſie nicht geſehen hät¬
ten? Die waren nicht wenig erſchrocken, denn da war
Keiner, der das ſanfte, ſchöne Mädchen nicht gern ge¬
habt hätte. Sie durchſuchten das Haus, die umlie¬
gende Gegend, den Wald bis zum Strande und ſelbſt
den Wallgraben, denn daß ſich die Aermſte das Leben
genommen habe, darüber waren ſie Alle einig.
Spät am Abend kam Harald zurück. Er war
allein. Als er in das Haus trat, ſah er auf den erſten
Blick an den verſtörten Geſichtern der Leute, daß
etwas vorgefallen ſein müſſe. Sein böſes Gewiſſen
ſagte ihm ſogleich, was. „Iſt ſie todt?“ fragte er
und wurde weiß wie Kalk. „Wir wiſſen es nicht,
Herr,“ ſagte der alte Jochen; „wir haben den
ganzen Tag geſucht, aber haben ſie noch nicht ge¬
funden.“
Er ging, ohne ein Wort zu erwiedern, an den
Leuten vorbei nach ſeinem Zimmer. Als er in der
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861/268>, abgerufen am 16.02.2025.
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