"Hierher, mein feiner, junger Herr!" rief die alte Dame, als sie nach den ersten Begrüßungen ihn er¬ blickte; "warum sind Sie nicht uns zu besuchen ge¬ kommen, wie Sie versprochen hatten? habe ich Sie deshalb meinem ungerathenen Neffen als das Muster eines wohlerzogenen jungen Mannes, der da weiß, was er alten Damen schuldig ist, vorgestellt? habe ich deshalb Ihre Aussprache des Französischen mei¬ ner naseweisen Nichte als mustergültig gerühmt? Schämen Sie sich! ich beehre Sie mit meiner Un¬ gnade!"
"Ich verdiene diese durchaus nicht, gnädige Frau!" sagte Oswald. "Ich konnte nicht kommen, wie ich wollte, und gesetzt, ich hätte wirklich eine Unterlassungs¬ sünde begangen, so bin ich doch wahrlich, auch ohne Ihre Ungnade, schwer genug bestraft."
"Ja, ja -- schöne Redensarten, daran fehlt es Ihnen nicht. Sind Sie auch nicht weniger unartig, wie die andern jungen Leute, so sind Sie doch ein wenig weniger plump, und schon deshalb muß ich Ihnen verzeihen. Hier haben Sie meine Hand, und nun sehen Sie zu, wie Sie mit meiner Nichte fertig werden, ohne daß sie Ihnen die hübschen Augen auskratzt."
Damit wandte die alte lebhafte Dame Oswald den
„Hierher, mein feiner, junger Herr!“ rief die alte Dame, als ſie nach den erſten Begrüßungen ihn er¬ blickte; „warum ſind Sie nicht uns zu beſuchen ge¬ kommen, wie Sie verſprochen hatten? habe ich Sie deshalb meinem ungerathenen Neffen als das Muſter eines wohlerzogenen jungen Mannes, der da weiß, was er alten Damen ſchuldig iſt, vorgeſtellt? habe ich deshalb Ihre Ausſprache des Franzöſiſchen mei¬ ner naſeweiſen Nichte als muſtergültig gerühmt? Schämen Sie ſich! ich beehre Sie mit meiner Un¬ gnade!“
„Ich verdiene dieſe durchaus nicht, gnädige Frau!“ ſagte Oswald. „Ich konnte nicht kommen, wie ich wollte, und geſetzt, ich hätte wirklich eine Unterlaſſungs¬ ſünde begangen, ſo bin ich doch wahrlich, auch ohne Ihre Ungnade, ſchwer genug beſtraft.“
„Ja, ja — ſchöne Redensarten, daran fehlt es Ihnen nicht. Sind Sie auch nicht weniger unartig, wie die andern jungen Leute, ſo ſind Sie doch ein wenig weniger plump, und ſchon deshalb muß ich Ihnen verzeihen. Hier haben Sie meine Hand, und nun ſehen Sie zu, wie Sie mit meiner Nichte fertig werden, ohne daß ſie Ihnen die hübſchen Augen auskratzt.“
Damit wandte die alte lebhafte Dame Oswald den
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„Hierher, mein feiner, junger Herr!“ rief die alte
Dame, als ſie nach den erſten Begrüßungen ihn er¬
blickte; „warum ſind Sie nicht uns zu beſuchen ge¬
kommen, wie Sie verſprochen hatten? habe ich Sie
deshalb meinem ungerathenen Neffen als das Muſter
eines wohlerzogenen jungen Mannes, der da weiß,
was er alten Damen ſchuldig iſt, vorgeſtellt? habe
ich deshalb Ihre Ausſprache des Franzöſiſchen mei¬
ner naſeweiſen Nichte als muſtergültig gerühmt?
Schämen Sie ſich! ich beehre Sie mit meiner Un¬
gnade!“
„Ich verdiene dieſe durchaus nicht, gnädige Frau!“
ſagte Oswald. „Ich konnte nicht kommen, wie ich
wollte, und geſetzt, ich hätte wirklich eine Unterlaſſungs¬
ſünde begangen, ſo bin ich doch wahrlich, auch ohne
Ihre Ungnade, ſchwer genug beſtraft.“
„Ja, ja — ſchöne Redensarten, daran fehlt es
Ihnen nicht. Sind Sie auch nicht weniger unartig,
wie die andern jungen Leute, ſo ſind Sie doch ein
wenig weniger plump, und ſchon deshalb muß ich
Ihnen verzeihen. Hier haben Sie meine Hand, und
nun ſehen Sie zu, wie Sie mit meiner Nichte fertig
werden, ohne daß ſie Ihnen die hübſchen Augen
auskratzt.“
Damit wandte die alte lebhafte Dame Oswald den
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/60>, abgerufen am 26.06.2024.
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