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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

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eine Summe erbe, mit welcher es sich gut und
redlich ernähren könne.

Lottchen lebte beinahe stets im Ueberflusse,
alles, was sonst die Hausmütter als einen Lecker-
bissen für ihr künftiges Kindsbette aufbewahrten,
trugen sie jetzt mit willigem Herzen auf die Schu-
le, und weinten innig, wenn ihr wahnsinniges
Pflegekind sie für Engel ansah, und mit ihnen
von den seligen Freuden des Himmels sprach.
Der neue Pfarrer war ein wahrer Menschen-
freund, er nahm warmen Antheil an Lottchens
Schicksale, ermahnte seine Gemeinde oft zur Aus-
dauer in ihrer wohlthätigen Handlung, und fachte
dadurch ihren Eifer auf's neue an. Lottchen be-
hauptete, daß die weisse Farbe die Kleidung der
Engel sei, und wollte kein anderes Kleid anzie-
hen, auch ihr Kind in keinem anderen sehen. Es
ward daher im Dorfe bald zum unverbrüchlichen
Gesetze, daß jede Dirne am Abend, wenn die
Hausmutter Feierabend gebot, noch eine halbe
Stunde länger für Lottchen spinnen mußte, damit
sie nie Mangel an Leinewand haben sollte. Oft
leuchtete um Mitternacht noch am Fenster der
fleißigen Dirnen das Lämpchen, und wenn der
Wanderer nach der Ursache forschte, so ward ihm
zur Antwort, daß die Dirne am Engelskleid
spinne.

Vier Jahre waren nun in Drangsalen des
Krieges verflossen, immer war das Dorf vor Ver-

eine Summe erbe, mit welcher es ſich gut und
redlich ernaͤhren koͤnne.

Lottchen lebte beinahe ſtets im Ueberfluſſe,
alles, was ſonſt die Hausmuͤtter als einen Lecker-
biſſen fuͤr ihr kuͤnftiges Kindsbette aufbewahrten,
trugen ſie jetzt mit willigem Herzen auf die Schu-
le, und weinten innig, wenn ihr wahnſinniges
Pflegekind ſie fuͤr Engel anſah, und mit ihnen
von den ſeligen Freuden des Himmels ſprach.
Der neue Pfarrer war ein wahrer Menſchen-
freund, er nahm warmen Antheil an Lottchens
Schickſale, ermahnte ſeine Gemeinde oft zur Aus-
dauer in ihrer wohlthaͤtigen Handlung, und fachte
dadurch ihren Eifer auf's neue an. Lottchen be-
hauptete, daß die weiſſe Farbe die Kleidung der
Engel ſei, und wollte kein anderes Kleid anzie-
hen, auch ihr Kind in keinem anderen ſehen. Es
ward daher im Dorfe bald zum unverbruͤchlichen
Geſetze, daß jede Dirne am Abend, wenn die
Hausmutter Feierabend gebot, noch eine halbe
Stunde laͤnger fuͤr Lottchen ſpinnen mußte, damit
ſie nie Mangel an Leinewand haben ſollte. Oft
leuchtete um Mitternacht noch am Fenſter der
fleißigen Dirnen das Laͤmpchen, und wenn der
Wanderer nach der Urſache forſchte, ſo ward ihm
zur Antwort, daß die Dirne am Engelskleid
ſpinne.

Vier Jahre waren nun in Drangſalen des
Krieges verfloſſen, immer war das Dorf vor Ver-

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[88/0102] eine Summe erbe, mit welcher es ſich gut und redlich ernaͤhren koͤnne. Lottchen lebte beinahe ſtets im Ueberfluſſe, alles, was ſonſt die Hausmuͤtter als einen Lecker- biſſen fuͤr ihr kuͤnftiges Kindsbette aufbewahrten, trugen ſie jetzt mit willigem Herzen auf die Schu- le, und weinten innig, wenn ihr wahnſinniges Pflegekind ſie fuͤr Engel anſah, und mit ihnen von den ſeligen Freuden des Himmels ſprach. Der neue Pfarrer war ein wahrer Menſchen- freund, er nahm warmen Antheil an Lottchens Schickſale, ermahnte ſeine Gemeinde oft zur Aus- dauer in ihrer wohlthaͤtigen Handlung, und fachte dadurch ihren Eifer auf's neue an. Lottchen be- hauptete, daß die weiſſe Farbe die Kleidung der Engel ſei, und wollte kein anderes Kleid anzie- hen, auch ihr Kind in keinem anderen ſehen. Es ward daher im Dorfe bald zum unverbruͤchlichen Geſetze, daß jede Dirne am Abend, wenn die Hausmutter Feierabend gebot, noch eine halbe Stunde laͤnger fuͤr Lottchen ſpinnen mußte, damit ſie nie Mangel an Leinewand haben ſollte. Oft leuchtete um Mitternacht noch am Fenſter der fleißigen Dirnen das Laͤmpchen, und wenn der Wanderer nach der Urſache forſchte, ſo ward ihm zur Antwort, daß die Dirne am Engelskleid ſpinne. Vier Jahre waren nun in Drangſalen des Krieges verfloſſen, immer war das Dorf vor Ver-

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/102>, abgerufen am 29.11.2024.