zehn Jahren genoß sie noch immer das ungetheilte Mitleid aller Dorfsbewohner, weil sie vielen un- ter ihnen Gutes erwiesen, keinen beleidigt, und aller Meinung nach durch das schreckliche Ende ihres Mannes, durch die plötzliche Entdeckung sei- nes Mörders ihren Verstand verlohren hatte.
Um diese Zeit forderte das Kriminalgerichte der Hauptstadt ihre Gegenwart, weil eine Gefangene und überwiesene Giftmischerin sie der Theilnahme eines Mords beschuldige. Man sandte sie dahin, sie lächelte, als man ihr die Ketten anlegte, und sprach oft: Gott ist gerecht!
Die Richter sahen bald ein, daß sie eine Wahnsinnige nicht verhören, eben so wenig ver- urtheilen könnten; da aber die Gefangne aus- drücklich bekannte, daß dieß die Angeklagte sei, und auf dieß Bekenntniß starb, so ward Marie nicht mehr nach dem Dorfe zurückgesandt, son- dern im Hospitale der Wahnsinnigen bis an ihr Ende verwahrt. Dieß erfolgte erst funfzehn Jahr nachher.
Sie handelte diese lange Zeit hindurch immer gleichförmig, rief jedem, der sich ihrem Kämmer- chen näherte, mit lauter Stimme zu: Gott ist gerecht! und küßte die Kette, an welche sie an- geschlossen war. Wie schon der Tod mit ihr rang, richtete sie sich noch einmal auf, blickte die neben ihr stehende Wärterin starr an, faltete ihre Hände zum Gebete, und rief aus: Gott ist gerecht, aber auch barmherzig! Nach
zehn Jahren genoß ſie noch immer das ungetheilte Mitleid aller Dorfsbewohner, weil ſie vielen un- ter ihnen Gutes erwieſen, keinen beleidigt, und aller Meinung nach durch das ſchreckliche Ende ihres Mannes, durch die ploͤtzliche Entdeckung ſei- nes Moͤrders ihren Verſtand verlohren hatte.
Um dieſe Zeit forderte das Kriminalgerichte der Hauptſtadt ihre Gegenwart, weil eine Gefangene und uͤberwieſene Giftmiſcherin ſie der Theilnahme eines Mords beſchuldige. Man ſandte ſie dahin, ſie laͤchelte, als man ihr die Ketten anlegte, und ſprach oft: Gott iſt gerecht!
Die Richter ſahen bald ein, daß ſie eine Wahnſinnige nicht verhoͤren, eben ſo wenig ver- urtheilen koͤnnten; da aber die Gefangne aus- druͤcklich bekannte, daß dieß die Angeklagte ſei, und auf dieß Bekenntniß ſtarb, ſo ward Marie nicht mehr nach dem Dorfe zuruͤckgeſandt, ſon- dern im Hoſpitale der Wahnſinnigen bis an ihr Ende verwahrt. Dieß erfolgte erſt funfzehn Jahr nachher.
Sie handelte dieſe lange Zeit hindurch immer gleichfoͤrmig, rief jedem, der ſich ihrem Kaͤmmer- chen naͤherte, mit lauter Stimme zu: Gott iſt gerecht! und kuͤßte die Kette, an welche ſie an- geſchloſſen war. Wie ſchon der Tod mit ihr rang, richtete ſie ſich noch einmal auf, blickte die neben ihr ſtehende Waͤrterin ſtarr an, faltete ihre Haͤnde zum Gebete, und rief aus: Gott iſt gerecht, aber auch barmherzig! Nach
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0188"n="180"/>
zehn Jahren genoß ſie noch immer das ungetheilte<lb/>
Mitleid aller Dorfsbewohner, weil ſie vielen un-<lb/>
ter ihnen Gutes erwieſen, keinen beleidigt, und<lb/>
aller Meinung nach durch das ſchreckliche Ende<lb/>
ihres Mannes, durch die ploͤtzliche Entdeckung ſei-<lb/>
nes Moͤrders ihren Verſtand verlohren hatte.</p><lb/><p>Um dieſe Zeit forderte das Kriminalgerichte der<lb/>
Hauptſtadt ihre Gegenwart, weil eine Gefangene<lb/>
und uͤberwieſene Giftmiſcherin ſie der Theilnahme<lb/>
eines Mords beſchuldige. Man ſandte ſie dahin,<lb/>ſie laͤchelte, als man ihr die Ketten anlegte, und<lb/>ſprach oft: Gott iſt gerecht!</p><lb/><p>Die Richter ſahen bald ein, daß ſie eine<lb/>
Wahnſinnige nicht verhoͤren, eben ſo wenig ver-<lb/>
urtheilen koͤnnten; da aber die Gefangne aus-<lb/>
druͤcklich bekannte, daß dieß die Angeklagte ſei,<lb/>
und auf dieß Bekenntniß ſtarb, ſo ward Marie<lb/>
nicht mehr nach dem Dorfe zuruͤckgeſandt, ſon-<lb/>
dern im Hoſpitale der Wahnſinnigen bis an ihr<lb/>
Ende verwahrt. Dieß erfolgte erſt funfzehn Jahr<lb/>
nachher.</p><lb/><p>Sie handelte dieſe lange Zeit hindurch immer<lb/>
gleichfoͤrmig, rief jedem, der ſich ihrem Kaͤmmer-<lb/>
chen naͤherte, mit lauter Stimme zu: Gott iſt<lb/>
gerecht! und kuͤßte die Kette, an welche ſie an-<lb/>
geſchloſſen war. Wie ſchon der Tod mit ihr<lb/>
rang, richtete ſie ſich noch einmal auf, blickte<lb/>
die neben ihr ſtehende Waͤrterin ſtarr an, faltete<lb/>
ihre Haͤnde zum Gebete, und rief aus: <hirendition="#g">Gott<lb/>
iſt gerecht, aber auch barmherzig</hi>! Nach<lb/></p></div></body></text></TEI>
[180/0188]
zehn Jahren genoß ſie noch immer das ungetheilte
Mitleid aller Dorfsbewohner, weil ſie vielen un-
ter ihnen Gutes erwieſen, keinen beleidigt, und
aller Meinung nach durch das ſchreckliche Ende
ihres Mannes, durch die ploͤtzliche Entdeckung ſei-
nes Moͤrders ihren Verſtand verlohren hatte.
Um dieſe Zeit forderte das Kriminalgerichte der
Hauptſtadt ihre Gegenwart, weil eine Gefangene
und uͤberwieſene Giftmiſcherin ſie der Theilnahme
eines Mords beſchuldige. Man ſandte ſie dahin,
ſie laͤchelte, als man ihr die Ketten anlegte, und
ſprach oft: Gott iſt gerecht!
Die Richter ſahen bald ein, daß ſie eine
Wahnſinnige nicht verhoͤren, eben ſo wenig ver-
urtheilen koͤnnten; da aber die Gefangne aus-
druͤcklich bekannte, daß dieß die Angeklagte ſei,
und auf dieß Bekenntniß ſtarb, ſo ward Marie
nicht mehr nach dem Dorfe zuruͤckgeſandt, ſon-
dern im Hoſpitale der Wahnſinnigen bis an ihr
Ende verwahrt. Dieß erfolgte erſt funfzehn Jahr
nachher.
Sie handelte dieſe lange Zeit hindurch immer
gleichfoͤrmig, rief jedem, der ſich ihrem Kaͤmmer-
chen naͤherte, mit lauter Stimme zu: Gott iſt
gerecht! und kuͤßte die Kette, an welche ſie an-
geſchloſſen war. Wie ſchon der Tod mit ihr
rang, richtete ſie ſich noch einmal auf, blickte
die neben ihr ſtehende Waͤrterin ſtarr an, faltete
ihre Haͤnde zum Gebete, und rief aus: Gott
iſt gerecht, aber auch barmherzig! Nach
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/188>, abgerufen am 26.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.