Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.
falls mit ihrem Vater in den Wagen. Die Reise war um so nothwendiger geworden, denn wäre sie daheim geblieben, so hätte sicher tiefe und unheilbare Schwermuth die schönste Rose vernich- tet. Selbst die große Zerstreuung der Reise, die noch größere der schönen Stadt wirkte nur schwach auf ihr krankes Herz, aber sie verhinderte doch gänzliches Hinwelken, und erquickte dann und wann die schmachtende Blume mit labendem Thaue. Ihr Vater blieb sechs Monate lang sei- ner Tochter wegen in der Stadt, es fanden sich dort angesehene Glaubensgenossen, die bei ihm um ihre Hand warben, da er aber ihr Leiden kannte und ehrte, so versagte er selbst, was sie ohnehin nicht gegeben hätte. Er brachte ihr je- den Monat selbst den Brief ihres Friedrichs, und sah mit Thränen, daß dieß der einzige Trost sei, den er ihr gewähren konnte. Friedrich schrieb al- lemal, daß seine Liebe sich nicht mindern könne, und Esther antwortete wieder, daß die ihrige sich vergrößern würde, wenn Vergrößerung möglich wäre. Als der Vater mit ihr nach Hause kehrte, erhielt Esther noch zwei Briefe, im letzten dersel- ben schrieb er, daß er bald der Unmöglichkeit wei- chen, nicht mehr kämpfen, und kommen werde, um zu ihren Füßen zu sterben. Esther durchharrte nun in banger Erwartung ein langes, quaalvol- les halbes Jahr, als aber weder der Unvergeßli- che noch ein Brief von ihm kam, und sie mit vollem Rechte an seiner Treue zweifeln mußte,
falls mit ihrem Vater in den Wagen. Die Reiſe war um ſo nothwendiger geworden, denn waͤre ſie daheim geblieben, ſo haͤtte ſicher tiefe und unheilbare Schwermuth die ſchoͤnſte Roſe vernich- tet. Selbſt die große Zerſtreuung der Reiſe, die noch groͤßere der ſchoͤnen Stadt wirkte nur ſchwach auf ihr krankes Herz, aber ſie verhinderte doch gaͤnzliches Hinwelken, und erquickte dann und wann die ſchmachtende Blume mit labendem Thaue. Ihr Vater blieb ſechs Monate lang ſei- ner Tochter wegen in der Stadt, es fanden ſich dort angeſehene Glaubensgenoſſen, die bei ihm um ihre Hand warben, da er aber ihr Leiden kannte und ehrte, ſo verſagte er ſelbſt, was ſie ohnehin nicht gegeben haͤtte. Er brachte ihr je- den Monat ſelbſt den Brief ihres Friedrichs, und ſah mit Thraͤnen, daß dieß der einzige Troſt ſei, den er ihr gewaͤhren konnte. Friedrich ſchrieb al- lemal, daß ſeine Liebe ſich nicht mindern koͤnne, und Eſther antwortete wieder, daß die ihrige ſich vergroͤßern wuͤrde, wenn Vergroͤßerung moͤglich waͤre. Als der Vater mit ihr nach Hauſe kehrte, erhielt Eſther noch zwei Briefe, im letzten derſel- ben ſchrieb er, daß er bald der Unmoͤglichkeit wei- chen, nicht mehr kaͤmpfen, und kommen werde, um zu ihren Fuͤßen zu ſterben. Eſther durchharrte nun in banger Erwartung ein langes, quaalvol- les halbes Jahr, als aber weder der Unvergeßli- che noch ein Brief von ihm kam, und ſie mit vollem Rechte an ſeiner Treue zweifeln mußte, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#ESTHER"> <p><pb facs="#f0028" n="20"/> falls mit ihrem Vater in den Wagen. Die Reiſe<lb/> war um ſo nothwendiger geworden, denn waͤre<lb/> ſie daheim geblieben, ſo haͤtte ſicher tiefe und<lb/> unheilbare Schwermuth die ſchoͤnſte Roſe vernich-<lb/> tet. Selbſt die große Zerſtreuung der Reiſe, die<lb/> noch groͤßere der ſchoͤnen Stadt wirkte nur ſchwach<lb/> auf ihr krankes Herz, aber ſie verhinderte doch<lb/> gaͤnzliches Hinwelken, und erquickte dann und<lb/> wann die ſchmachtende Blume mit labendem<lb/> Thaue. Ihr Vater blieb ſechs Monate lang ſei-<lb/> ner Tochter wegen in der Stadt, es fanden ſich<lb/> dort angeſehene Glaubensgenoſſen, die bei ihm<lb/> um ihre Hand warben, da er aber ihr Leiden<lb/> kannte und ehrte, ſo verſagte er ſelbſt, was ſie<lb/> ohnehin nicht gegeben haͤtte. Er brachte ihr je-<lb/> den Monat ſelbſt den Brief ihres Friedrichs, und<lb/> ſah mit Thraͤnen, daß dieß der einzige Troſt ſei,<lb/> den er ihr gewaͤhren konnte. Friedrich ſchrieb al-<lb/> lemal, daß ſeine Liebe ſich nicht mindern koͤnne,<lb/> und Eſther antwortete wieder, daß die ihrige ſich<lb/> vergroͤßern wuͤrde, wenn Vergroͤßerung moͤglich<lb/> waͤre. Als der Vater mit ihr nach Hauſe kehrte,<lb/> erhielt Eſther noch zwei Briefe, im letzten derſel-<lb/> ben ſchrieb er, daß er bald der Unmoͤglichkeit wei-<lb/> chen, nicht mehr kaͤmpfen, und kommen werde,<lb/> um zu ihren Fuͤßen zu ſterben. Eſther durchharrte<lb/> nun in banger Erwartung ein langes, quaalvol-<lb/> les halbes Jahr, als aber weder der Unvergeßli-<lb/> che noch ein Brief von ihm kam, und ſie mit<lb/> vollem Rechte an ſeiner Treue zweifeln mußte,<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [20/0028]
falls mit ihrem Vater in den Wagen. Die Reiſe
war um ſo nothwendiger geworden, denn waͤre
ſie daheim geblieben, ſo haͤtte ſicher tiefe und
unheilbare Schwermuth die ſchoͤnſte Roſe vernich-
tet. Selbſt die große Zerſtreuung der Reiſe, die
noch groͤßere der ſchoͤnen Stadt wirkte nur ſchwach
auf ihr krankes Herz, aber ſie verhinderte doch
gaͤnzliches Hinwelken, und erquickte dann und
wann die ſchmachtende Blume mit labendem
Thaue. Ihr Vater blieb ſechs Monate lang ſei-
ner Tochter wegen in der Stadt, es fanden ſich
dort angeſehene Glaubensgenoſſen, die bei ihm
um ihre Hand warben, da er aber ihr Leiden
kannte und ehrte, ſo verſagte er ſelbſt, was ſie
ohnehin nicht gegeben haͤtte. Er brachte ihr je-
den Monat ſelbſt den Brief ihres Friedrichs, und
ſah mit Thraͤnen, daß dieß der einzige Troſt ſei,
den er ihr gewaͤhren konnte. Friedrich ſchrieb al-
lemal, daß ſeine Liebe ſich nicht mindern koͤnne,
und Eſther antwortete wieder, daß die ihrige ſich
vergroͤßern wuͤrde, wenn Vergroͤßerung moͤglich
waͤre. Als der Vater mit ihr nach Hauſe kehrte,
erhielt Eſther noch zwei Briefe, im letzten derſel-
ben ſchrieb er, daß er bald der Unmoͤglichkeit wei-
chen, nicht mehr kaͤmpfen, und kommen werde,
um zu ihren Fuͤßen zu ſterben. Eſther durchharrte
nun in banger Erwartung ein langes, quaalvol-
les halbes Jahr, als aber weder der Unvergeßli-
che noch ein Brief von ihm kam, und ſie mit
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