Die Mutter starb, und die ehrvergeßne, ungehorsame Tochter reichte bald hernach ihrem Liebhaber die Hand. Sie feierten ihre Hoch- zeit mit großer Pracht auf dem Schlosse, wel- ches auf diesem Felsen stand. Wie sie um Mit- ternacht nach der Brautkammer gingen, hörte die Nachbarschaft rings umher einen fürchter- lichen Donnerschlag. Am Morgen war das schöne Schloß verschwunden, kein Weg und Steg führte mehr nach dem Felsen. Die un- gehorsame Tochter saß ganz allein auf der Spitze desselben in dem steinernen Brautbette, welches man izt noch deutlich sehen und be- trachten kann. Kein Mensch konnte sie ret- ten, und jeder, welcher es wagen wollte, zu ihr hinauf zu klettern, stürzte herab. Sie mußte ohne Hülfe auf diesem Felsen verzwei- feln und Hungers sterben. Ihren todten Kör- per frassen die Raben, und die Uhus schlepten ihre Gebeine in der Gegend umher, damit jedes ungehorsame Kind sich ein Beispiel neh-
Die Mutter ſtarb, und die ehrvergeßne, ungehorſame Tochter reichte bald hernach ihrem Liebhaber die Hand. Sie feierten ihre Hoch- zeit mit großer Pracht auf dem Schloſſe, wel- ches auf dieſem Felſen ſtand. Wie ſie um Mit- ternacht nach der Brautkammer gingen, hoͤrte die Nachbarſchaft rings umher einen fuͤrchter- lichen Donnerſchlag. Am Morgen war das ſchoͤne Schloß verſchwunden, kein Weg und Steg fuͤhrte mehr nach dem Felſen. Die un- gehorſame Tochter ſaß ganz allein auf der Spitze deſſelben in dem ſteinernen Brautbette, welches man izt noch deutlich ſehen und be- trachten kann. Kein Menſch konnte ſie ret- ten, und jeder, welcher es wagen wollte, zu ihr hinauf zu klettern, ſtuͤrzte herab. Sie mußte ohne Huͤlfe auf dieſem Felſen verzwei- feln und Hungers ſterben. Ihren todten Koͤr- per fraſſen die Raben, und die Uhus ſchlepten ihre Gebeine in der Gegend umher, damit jedes ungehorſame Kind ſich ein Beiſpiel neh-
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Die Mutter ſtarb, und die ehrvergeßne,
ungehorſame Tochter reichte bald hernach ihrem
Liebhaber die Hand. Sie feierten ihre Hoch-
zeit mit großer Pracht auf dem Schloſſe, wel-
ches auf dieſem Felſen ſtand. Wie ſie um Mit-
ternacht nach der Brautkammer gingen, hoͤrte
die Nachbarſchaft rings umher einen fuͤrchter-
lichen Donnerſchlag. Am Morgen war das
ſchoͤne Schloß verſchwunden, kein Weg und
Steg fuͤhrte mehr nach dem Felſen. Die un-
gehorſame Tochter ſaß ganz allein auf der
Spitze deſſelben in dem ſteinernen Brautbette,
welches man izt noch deutlich ſehen und be-
trachten kann. Kein Menſch konnte ſie ret-
ten, und jeder, welcher es wagen wollte, zu
ihr hinauf zu klettern, ſtuͤrzte herab. Sie
mußte ohne Huͤlfe auf dieſem Felſen verzwei-
feln und Hungers ſterben. Ihren todten Koͤr-
per fraſſen die Raben, und die Uhus ſchlepten
ihre Gebeine in der Gegend umher, damit
jedes ungehorſame Kind ſich ein Beiſpiel neh-
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/314>, abgerufen am 24.11.2024.
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