nicht, daß diese Jungfrau dein Weib werden, deine Schwester seyn könne.
Einige Tage nachher ward meine Sehn- sucht, dich zu umarmen, grösser, ich wollte am andern Tage dich besuchen, und las aus dieser Absicht schon sehr früh die Messe. Wie ich schon geendet hatte, und das Volk segnen woll- te, erblickte ich am Fusse des Altars deine Mut- ter, meine noch immer unvergeßliche Edeldrud. Sie starrte fürchterlich zu mir empor, und ich staunend zu ihr hinab, meine Füsse zitter- ten, meine Sinne wichen, ich sank ohnmächtig zu Boden, und lag auf dem Lager meiner Zelle, als ich wieder denken und empfinden konnte. Ihr Bild schwebte vor mir, Fieberhitze glühte in meinen Adern, und raubte mir bald wieder den Verstand. Zwei Monden kämpfte ich mit dem Tode, im dritten erholte ich mich erst langsam. Ich hatte keinen Freund, dem ich mein Anliegen entdecken konnte, und harrte
nicht, daß dieſe Jungfrau dein Weib werden, deine Schweſter ſeyn koͤnne.
Einige Tage nachher ward meine Sehn- ſucht, dich zu umarmen, groͤſſer, ich wollte am andern Tage dich beſuchen, und las aus dieſer Abſicht ſchon ſehr fruͤh die Meſſe. Wie ich ſchon geendet hatte, und das Volk ſegnen woll- te, erblickte ich am Fuſſe des Altars deine Mut- ter, meine noch immer unvergeßliche Edeldrud. Sie ſtarrte fuͤrchterlich zu mir empor, und ich ſtaunend zu ihr hinab, meine Fuͤſſe zitter- ten, meine Sinne wichen, ich ſank ohnmaͤchtig zu Boden, und lag auf dem Lager meiner Zelle, als ich wieder denken und empfinden konnte. Ihr Bild ſchwebte vor mir, Fieberhitze gluͤhte in meinen Adern, und raubte mir bald wieder den Verſtand. Zwei Monden kaͤmpfte ich mit dem Tode, im dritten erholte ich mich erſt langſam. Ich hatte keinen Freund, dem ich mein Anliegen entdecken konnte, und harrte
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nicht, daß dieſe Jungfrau dein Weib werden,
deine Schweſter ſeyn koͤnne.
Einige Tage nachher ward meine Sehn-
ſucht, dich zu umarmen, groͤſſer, ich wollte am
andern Tage dich beſuchen, und las aus dieſer
Abſicht ſchon ſehr fruͤh die Meſſe. Wie ich
ſchon geendet hatte, und das Volk ſegnen woll-
te, erblickte ich am Fuſſe des Altars deine Mut-
ter, meine noch immer unvergeßliche Edeldrud.
Sie ſtarrte fuͤrchterlich zu mir empor, und
ich ſtaunend zu ihr hinab, meine Fuͤſſe zitter-
ten, meine Sinne wichen, ich ſank ohnmaͤchtig
zu Boden, und lag auf dem Lager meiner Zelle,
als ich wieder denken und empfinden konnte.
Ihr Bild ſchwebte vor mir, Fieberhitze gluͤhte
in meinen Adern, und raubte mir bald wieder
den Verſtand. Zwei Monden kaͤmpfte ich mit
dem Tode, im dritten erholte ich mich erſt
langſam. Ich hatte keinen Freund, dem ich
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/248>, abgerufen am 21.11.2024.
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