Gleichgewichte, sie stürzte von der Höhe her- ab, und lag zerschmettert vor dem starrenden Auge der bebenden Mutter.
Ich wende mein nasses Auge von dieser schrecklichen Szene; als sie dem Marggrafen bekannt wurde, seufzte er tief, und legte die Hand auf sein fühlendes Herz. Bald nachher machte er es bekannt, daß er die Leiche selbst zu ihrer Ruhestätte begleiten würde, seinem Beispiele folgte der Hof und die ganze Stadt. Es war rührend zu sehen, wie der lange Zug durch alle Gassen in krummen Linien dem Sar- ge der Unglücklichen nachwallte. Der Hofpre- diger mußte die Leichenrede halten, er wählte den Text: Er hat mich verlassen, aber der Herr nahm mich auf! Aller Augen thränten, als er begann, und manche wan- kende Tugend des lüsternen Mädchens ward durch seine vortrefliche Rede zum stärkern und siegenden Kampfe ermuntert. Der Marggraf
Gleichgewichte, ſie ſtuͤrzte von der Hoͤhe her- ab, und lag zerſchmettert vor dem ſtarrenden Auge der bebenden Mutter.
Ich wende mein naſſes Auge von dieſer ſchrecklichen Szene; als ſie dem Marggrafen bekannt wurde, ſeufzte er tief, und legte die Hand auf ſein fuͤhlendes Herz. Bald nachher machte er es bekannt, daß er die Leiche ſelbſt zu ihrer Ruheſtaͤtte begleiten wuͤrde, ſeinem Beiſpiele folgte der Hof und die ganze Stadt. Es war ruͤhrend zu ſehen, wie der lange Zug durch alle Gaſſen in krummen Linien dem Sar- ge der Ungluͤcklichen nachwallte. Der Hofpre- diger mußte die Leichenrede halten, er waͤhlte den Text: Er hat mich verlaſſen, aber der Herr nahm mich auf! Aller Augen thraͤnten, als er begann, und manche wan- kende Tugend des luͤſternen Maͤdchens ward durch ſeine vortrefliche Rede zum ſtaͤrkern und ſiegenden Kampfe ermuntert. Der Marggraf
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Gleichgewichte, ſie ſtuͤrzte von der Hoͤhe her-
ab, und lag zerſchmettert vor dem ſtarrenden
Auge der bebenden Mutter.
Ich wende mein naſſes Auge von dieſer
ſchrecklichen Szene; als ſie dem Marggrafen
bekannt wurde, ſeufzte er tief, und legte die
Hand auf ſein fuͤhlendes Herz. Bald nachher
machte er es bekannt, daß er die Leiche ſelbſt
zu ihrer Ruheſtaͤtte begleiten wuͤrde, ſeinem
Beiſpiele folgte der Hof und die ganze Stadt.
Es war ruͤhrend zu ſehen, wie der lange Zug
durch alle Gaſſen in krummen Linien dem Sar-
ge der Ungluͤcklichen nachwallte. Der Hofpre-
diger mußte die Leichenrede halten, er waͤhlte
den Text: Er hat mich verlaſſen, aber
der Herr nahm mich auf! Aller Augen
thraͤnten, als er begann, und manche wan-
kende Tugend des luͤſternen Maͤdchens ward
durch ſeine vortrefliche Rede zum ſtaͤrkern und
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/68>, abgerufen am 21.11.2024.
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