lassen, daß du bei mir bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen. Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Candidat, und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist so lange. Der Herr Candidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nah an's Gesicht heran, so, als wäre er auf einmal ganz kurzsichtig geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taschentuch hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so als sei sie ganz ergriffen von Etwas, das wir lesen, aber ich weiß recht gut, daß sie nur ganz schreck¬ lich gähnt dahinter, und dann sollte ich auch so stark gähnen, und muß es immer herunterschlucken, denn wenn ich nur ein einziges Mal herausgähne, so holt Fräulein Rotten¬ meier gleich den Fischthran und sagt, ich sei wieder schwach, und Fischthran Nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich noch lieber Gähnen schlucken. Aber nun wird's viel kurz¬ weiliger, da kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst." Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom Lesenlernen hörte.
"Doch, doch, Heidi, natürlich mußt du lesen lernen, alle Menschen müssen, und der Herr Candidat ist sehr gut,
laſſen, daß du bei mir bleibeſt und die Stunden mit mir nehmeſt, und ſiehſt du, es wird nun ganz luſtig, weil du gar nicht leſen kannſt, nun kommt etwas ganz Neues in den Stunden vor. Sonſt iſt es manchmal ſo ſchrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen. Denn ſiehſt du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Candidat, und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das iſt ſo lange. Der Herr Candidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nah an's Geſicht heran, ſo, als wäre er auf einmal ganz kurzſichtig geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taſchentuch hervor und hält es vor das ganze Geſicht hin, ſo als ſei ſie ganz ergriffen von Etwas, das wir leſen, aber ich weiß recht gut, daß ſie nur ganz ſchreck¬ lich gähnt dahinter, und dann ſollte ich auch ſo ſtark gähnen, und muß es immer herunterſchlucken, denn wenn ich nur ein einziges Mal herausgähne, ſo holt Fräulein Rotten¬ meier gleich den Fiſchthran und ſagt, ich ſei wieder ſchwach, und Fiſchthran Nehmen iſt das Allerſchrecklichſte, da will ich noch lieber Gähnen ſchlucken. Aber nun wird's viel kurz¬ weiliger, da kann ich dann zuhören, wie du leſen lernſt.“ Heidi ſchüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom Leſenlernen hörte.
„Doch, doch, Heidi, natürlich mußt du leſen lernen, alle Menſchen müſſen, und der Herr Candidat iſt ſehr gut,
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laſſen, daß du bei mir bleibeſt und die Stunden mit mir
nehmeſt, und ſiehſt du, es wird nun ganz luſtig, weil du
gar nicht leſen kannſt, nun kommt etwas ganz Neues in
den Stunden vor. Sonſt iſt es manchmal ſo ſchrecklich
langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
Denn ſiehſt du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der
Herr Candidat, und dann fangen die Stunden an und
dauern bis um zwei Uhr, das iſt ſo lange. Der Herr
Candidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nah an's
Geſicht heran, ſo, als wäre er auf einmal ganz kurzſichtig
geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch,
und Fräulein Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit
ihr großes Taſchentuch hervor und hält es vor das ganze
Geſicht hin, ſo als ſei ſie ganz ergriffen von Etwas, das
wir leſen, aber ich weiß recht gut, daß ſie nur ganz ſchreck¬
lich gähnt dahinter, und dann ſollte ich auch ſo ſtark gähnen,
und muß es immer herunterſchlucken, denn wenn ich nur
ein einziges Mal herausgähne, ſo holt Fräulein Rotten¬
meier gleich den Fiſchthran und ſagt, ich ſei wieder ſchwach,
und Fiſchthran Nehmen iſt das Allerſchrecklichſte, da will ich
noch lieber Gähnen ſchlucken. Aber nun wird's viel kurz¬
weiliger, da kann ich dann zuhören, wie du leſen lernſt.“
Heidi ſchüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
Leſenlernen hörte.
„Doch, doch, Heidi, natürlich mußt du leſen lernen,
alle Menſchen müſſen, und der Herr Candidat iſt ſehr gut,
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/106>, abgerufen am 26.06.2024.
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