Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

sieh'! sieh'! Heidi, hier, dort, sieh' dieses!" Heidi schoß
ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Can¬
dat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen,
bald den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen
Gekrabbel zu entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst
sprachles vor Entsetzen in ihrem Sessel, dann fing sie an
aus Leibeskräften zu schreien! "Tinette! Tinette! Se¬
bastian! Sebastian!" denn vom Sessel aufzustehen konnte
sie unmöglich wagen, da könnten ja mit einem Mal alle
die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.

Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wieder¬
holten Hülferufe herbei, und jener packte gleich eins nach
dem andern der kleinen Geschöpfe in den Korb hinein und
trug sie auf den Estrich zu dem Katzenlager, das er für
die Zweie von gestern bereitet hatte.

Auch am heutigen Tag hatte kein Gähnen während der
Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als
Fräulein Rottenmeier sich von den Aufregungen des Mor¬
gens wieder hinlänglich erholt hatte, berief sie Sebastian
und Tinette in's Studierzimmer herauf, um hier eine
gründliche Untersuchung über die strafwürdigen Vorgänge
anzustellen. Nun kam es denn heraus, daß Heidi auf
seinem gestrigen Ausflug die sämmtlichen Ereignisse vorbe¬
reitet und herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß
weiß vor Entrüstung da und konnte erst keine Worte für
ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, daß

Kleine Geschichten. III. 9

ſieh'! ſieh'! Heidi, hier, dort, ſieh' dieſes!“ Heidi ſchoß
ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Can¬
dat ſtand ſehr verlegen am Tiſch und zog bald den einen,
bald den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen
Gekrabbel zu entziehen. Fräulein Rottenmeier ſaß erſt
ſprachles vor Entſetzen in ihrem Seſſel, dann fing ſie an
aus Leibeskräften zu ſchreien! „Tinette! Tinette! Se¬
baſtian! Sebaſtian!“ denn vom Seſſel aufzuſtehen konnte
ſie unmöglich wagen, da könnten ja mit einem Mal alle
die kleinen Scheuſale an ihr emporſpringen.

Endlich kamen Sebaſtian und Tinette auf die wieder¬
holten Hülferufe herbei, und jener packte gleich eins nach
dem andern der kleinen Geſchöpfe in den Korb hinein und
trug ſie auf den Eſtrich zu dem Katzenlager, das er für
die Zweie von geſtern bereitet hatte.

Auch am heutigen Tag hatte kein Gähnen während der
Unterrichtsſtunden ſtattgefunden. Am ſpäten Abend, als
Fräulein Rottenmeier ſich von den Aufregungen des Mor¬
gens wieder hinlänglich erholt hatte, berief ſie Sebaſtian
und Tinette in's Studierzimmer herauf, um hier eine
gründliche Unterſuchung über die ſtrafwürdigen Vorgänge
anzuſtellen. Nun kam es denn heraus, daß Heidi auf
ſeinem geſtrigen Ausflug die ſämmtlichen Ereigniſſe vorbe¬
reitet und herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier ſaß
weiß vor Entrüſtung da und konnte erſt keine Worte für
ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, daß

Kleine Geſchichten. III. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0139" n="129"/>
&#x017F;ieh'! &#x017F;ieh'! Heidi, hier, dort, &#x017F;ieh' die&#x017F;es!&#x201C; Heidi &#x017F;choß<lb/>
ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Can¬<lb/>
dat &#x017F;tand &#x017F;ehr verlegen am Ti&#x017F;ch und zog bald den einen,<lb/>
bald den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen<lb/>
Gekrabbel zu entziehen. Fräulein Rottenmeier &#x017F;aß er&#x017F;t<lb/>
&#x017F;prachles vor Ent&#x017F;etzen in ihrem Se&#x017F;&#x017F;el, dann fing &#x017F;ie an<lb/>
aus Leibeskräften zu &#x017F;chreien! &#x201E;Tinette! Tinette! Se¬<lb/>
ba&#x017F;tian! Seba&#x017F;tian!&#x201C; denn vom Se&#x017F;&#x017F;el aufzu&#x017F;tehen konnte<lb/>
&#x017F;ie unmöglich wagen, da könnten ja mit einem Mal alle<lb/>
die kleinen Scheu&#x017F;ale an ihr empor&#x017F;pringen.</p><lb/>
        <p>Endlich kamen Seba&#x017F;tian und Tinette auf die wieder¬<lb/>
holten Hülferufe herbei, und jener packte gleich eins nach<lb/>
dem andern der kleinen Ge&#x017F;chöpfe in den Korb hinein und<lb/>
trug &#x017F;ie auf den E&#x017F;trich zu dem Katzenlager, das er für<lb/>
die Zweie von ge&#x017F;tern bereitet hatte.</p><lb/>
        <p>Auch am heutigen Tag hatte kein Gähnen während der<lb/>
Unterrichts&#x017F;tunden &#x017F;tattgefunden. Am &#x017F;päten Abend, als<lb/>
Fräulein Rottenmeier &#x017F;ich von den Aufregungen des Mor¬<lb/>
gens wieder hinlänglich erholt hatte, berief &#x017F;ie Seba&#x017F;tian<lb/>
und Tinette in's Studierzimmer herauf, um hier eine<lb/>
gründliche Unter&#x017F;uchung über die &#x017F;trafwürdigen Vorgänge<lb/>
anzu&#x017F;tellen. Nun kam es denn heraus, daß Heidi auf<lb/>
&#x017F;einem ge&#x017F;trigen Ausflug die &#x017F;ämmtlichen Ereigni&#x017F;&#x017F;e vorbe¬<lb/>
reitet und herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier &#x017F;<lb/>
weiß vor Entrü&#x017F;tung da und konnte er&#x017F;t keine Worte für<lb/>
ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, daß<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Kleine Ge&#x017F;chichten. <hi rendition="#aq">III</hi>. 9<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[129/0139] ſieh'! ſieh'! Heidi, hier, dort, ſieh' dieſes!“ Heidi ſchoß ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Can¬ dat ſtand ſehr verlegen am Tiſch und zog bald den einen, bald den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu entziehen. Fräulein Rottenmeier ſaß erſt ſprachles vor Entſetzen in ihrem Seſſel, dann fing ſie an aus Leibeskräften zu ſchreien! „Tinette! Tinette! Se¬ baſtian! Sebaſtian!“ denn vom Seſſel aufzuſtehen konnte ſie unmöglich wagen, da könnten ja mit einem Mal alle die kleinen Scheuſale an ihr emporſpringen. Endlich kamen Sebaſtian und Tinette auf die wieder¬ holten Hülferufe herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen Geſchöpfe in den Korb hinein und trug ſie auf den Eſtrich zu dem Katzenlager, das er für die Zweie von geſtern bereitet hatte. Auch am heutigen Tag hatte kein Gähnen während der Unterrichtsſtunden ſtattgefunden. Am ſpäten Abend, als Fräulein Rottenmeier ſich von den Aufregungen des Mor¬ gens wieder hinlänglich erholt hatte, berief ſie Sebaſtian und Tinette in's Studierzimmer herauf, um hier eine gründliche Unterſuchung über die ſtrafwürdigen Vorgänge anzuſtellen. Nun kam es denn heraus, daß Heidi auf ſeinem geſtrigen Ausflug die ſämmtlichen Ereigniſſe vorbe¬ reitet und herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier ſaß weiß vor Entrüſtung da und konnte erſt keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, daß Kleine Geſchichten. III. 9

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/139
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/139>, abgerufen am 24.11.2024.