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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Durch Heidi's Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf
man ihm Alles, Alles sagen?"

"Alles, Heidi, Alles."

Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Gro߬
mama und sagte eilig: "Kann ich gehn?"

"Gewiß! Gewiß!" gab diese zur Antwort, und Heidi
lief davon und hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es
sich auf seinen Schemel nieder und faltete seine Hände und
sagte dem lieben Gott Alles, was in seinem Herzen war
und es so traurig machte, und bat ihn dringend und herz¬
lich, daß er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
Großvater.

Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein
seit diesem Tage, als der Herr Candidat begehrte, der
Frau Sesemann seine Aufwartung zu machen, indem er
eine Besprechung über einen merkwürdigen Gegenstand mit
der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube
berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau Sese¬
mann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber
Herr Candidat, seien Sie mir willkommen! setzen Sie sich
her zu mir, hier" -- sie rückte ihm den Stuhl zurecht --;
"so, nun sagen Sie mir, was bringt Sie zu mir, doch
nichts Schlimmes? Keine Klagen?"

"Im Gegentheil, gnädige Frau", begann der Herr
Candidat, "es ist Etwas vorgefallen, das ich nicht mehr
erwarten konnte und Keiner, der einen Blick in alles Vorher¬

Kleine Geschichten. III. 11

Durch Heidi's Augen fuhr ein Freudenſtrahl: „Darf
man ihm Alles, Alles ſagen?“

„Alles, Heidi, Alles.“

Das Kind zog ſeine Hand aus den Händen der Gro߬
mama und ſagte eilig: „Kann ich gehn?“

„Gewiß! Gewiß!“ gab dieſe zur Antwort, und Heidi
lief davon und hinüber in ſein Zimmer, und hier ſetzte es
ſich auf ſeinen Schemel nieder und faltete ſeine Hände und
ſagte dem lieben Gott Alles, was in ſeinem Herzen war
und es ſo traurig machte, und bat ihn dringend und herz¬
lich, daß er ihm helfe und es wieder heimkommen laſſe zum
Großvater.

Es mochte etwas mehr als eine Woche verfloſſen ſein
ſeit dieſem Tage, als der Herr Candidat begehrte, der
Frau Seſemann ſeine Aufwartung zu machen, indem er
eine Beſprechung über einen merkwürdigen Gegenſtand mit
der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube
berufen, und hier, wie er eintrat, ſtreckte ihm Frau Seſe¬
mann ſogleich freundlich die Hand entgegen: „Mein lieber
Herr Candidat, ſeien Sie mir willkommen! ſetzen Sie ſich
her zu mir, hier“ — ſie rückte ihm den Stuhl zurecht —;
„ſo, nun ſagen Sie mir, was bringt Sie zu mir, doch
nichts Schlimmes? Keine Klagen?“

„Im Gegentheil, gnädige Frau“, begann der Herr
Candidat, „es iſt Etwas vorgefallen, das ich nicht mehr
erwarten konnte und Keiner, der einen Blick in alles Vorher¬

Kleine Geſchichten. III. 11
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[161/0171] Durch Heidi's Augen fuhr ein Freudenſtrahl: „Darf man ihm Alles, Alles ſagen?“ „Alles, Heidi, Alles.“ Das Kind zog ſeine Hand aus den Händen der Gro߬ mama und ſagte eilig: „Kann ich gehn?“ „Gewiß! Gewiß!“ gab dieſe zur Antwort, und Heidi lief davon und hinüber in ſein Zimmer, und hier ſetzte es ſich auf ſeinen Schemel nieder und faltete ſeine Hände und ſagte dem lieben Gott Alles, was in ſeinem Herzen war und es ſo traurig machte, und bat ihn dringend und herz¬ lich, daß er ihm helfe und es wieder heimkommen laſſe zum Großvater. Es mochte etwas mehr als eine Woche verfloſſen ſein ſeit dieſem Tage, als der Herr Candidat begehrte, der Frau Seſemann ſeine Aufwartung zu machen, indem er eine Beſprechung über einen merkwürdigen Gegenſtand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, ſtreckte ihm Frau Seſe¬ mann ſogleich freundlich die Hand entgegen: „Mein lieber Herr Candidat, ſeien Sie mir willkommen! ſetzen Sie ſich her zu mir, hier“ — ſie rückte ihm den Stuhl zurecht —; „ſo, nun ſagen Sie mir, was bringt Sie zu mir, doch nichts Schlimmes? Keine Klagen?“ „Im Gegentheil, gnädige Frau“, begann der Herr Candidat, „es iſt Etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und Keiner, der einen Blick in alles Vorher¬ Kleine Geſchichten. III. 11

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/171>, abgerufen am 27.11.2024.