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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Tannenwipfel und rauschten im Abendwind. Jetzt rannte das
Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Oehi nur recht sehen
konnte, was da herankam, stürzte das Kind schon auf ihn
hin, warf seinen Korb auf den Boden und umklammerte
den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es
Nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Großvater! Gro߬
vater! Großvater!"

Der Großvater sagte auch Nichts. Seit vielen Jahren
waren ihm zum ersten Mal wieder die Augen naß geworden,
und er mußte mit der Hand darüber fahren. Dann löste
er Heidi's Arme von seinem Hals, setzte das Kind auf
seine Kniee und betrachtete es einen Augenblick: "So bist
du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist
das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie
dich fortgeschickt?"

"O nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an,
"das mußt du nicht glauben, sie waren ja Alle so gut, die
Klara und die Großmama und der Herr Sesemann; aber
siehst du, Großvater, ich konnte es fast gar nicht mehr aus¬
halten, bis ich wieder bei dir daheim sein könnte, und ich
habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so hat es
mich gewürgt; aber ich habe gewiß Nichts gesagt, weil es
undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen
rief mich der Herr Sesemann ganz früh -- aber ich glaube,
der Herr Doktor war schuld daran -- aber es steht viel¬
leicht Alles in dem Brief" -- damit sprang Heidi auf den

Tannenwipfel und rauſchten im Abendwind. Jetzt rannte das
Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Oehi nur recht ſehen
konnte, was da herankam, ſtürzte das Kind ſchon auf ihn
hin, warf ſeinen Korb auf den Boden und umklammerte
den Alten, und vor Aufregung des Wiederſehens konnte es
Nichts ſagen, als nur immer ausrufen: „Großvater! Gro߬
vater! Großvater!“

Der Großvater ſagte auch Nichts. Seit vielen Jahren
waren ihm zum erſten Mal wieder die Augen naß geworden,
und er mußte mit der Hand darüber fahren. Dann löſte
er Heidi's Arme von ſeinem Hals, ſetzte das Kind auf
ſeine Kniee und betrachtete es einen Augenblick: „So biſt
du wieder heimgekommen, Heidi“, ſagte er dann; „wie iſt
das? Beſonders hoffärtig ſiehſt du nicht aus, haben ſie
dich fortgeſchickt?“

„O nein, Großvater“, fing Heidi nun mit Eifer an,
„das mußt du nicht glauben, ſie waren ja Alle ſo gut, die
Klara und die Großmama und der Herr Seſemann; aber
ſiehſt du, Großvater, ich konnte es faſt gar nicht mehr aus¬
halten, bis ich wieder bei dir daheim ſein könnte, und ich
habe manchmal gemeint, ich müſſe ganz erſticken, ſo hat es
mich gewürgt; aber ich habe gewiß Nichts geſagt, weil es
undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen
rief mich der Herr Seſemann ganz früh — aber ich glaube,
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[214/0224] Tannenwipfel und rauſchten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Oehi nur recht ſehen konnte, was da herankam, ſtürzte das Kind ſchon auf ihn hin, warf ſeinen Korb auf den Boden und umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiederſehens konnte es Nichts ſagen, als nur immer ausrufen: „Großvater! Gro߬ vater! Großvater!“ Der Großvater ſagte auch Nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum erſten Mal wieder die Augen naß geworden, und er mußte mit der Hand darüber fahren. Dann löſte er Heidi's Arme von ſeinem Hals, ſetzte das Kind auf ſeine Kniee und betrachtete es einen Augenblick: „So biſt du wieder heimgekommen, Heidi“, ſagte er dann; „wie iſt das? Beſonders hoffärtig ſiehſt du nicht aus, haben ſie dich fortgeſchickt?“ „O nein, Großvater“, fing Heidi nun mit Eifer an, „das mußt du nicht glauben, ſie waren ja Alle ſo gut, die Klara und die Großmama und der Herr Seſemann; aber ſiehſt du, Großvater, ich konnte es faſt gar nicht mehr aus¬ halten, bis ich wieder bei dir daheim ſein könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müſſe ganz erſticken, ſo hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiß Nichts geſagt, weil es undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der Herr Seſemann ganz früh — aber ich glaube, der Herr Doktor war ſchuld daran — aber es ſteht viel¬ leicht Alles in dem Brief“ — damit ſprang Heidi auf den

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/224>, abgerufen am 23.11.2024.