Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm
um sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Gaißenruthe
schwingend. Das Heidi und die Gaißen hüpften und sprangen
fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei
Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorsprung
des Berges die Hütte des alten Oehi stand, allen Winden
ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit
der vollen Aussicht weit in's Thal hinab. Hinter der Hütte
standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen
Aesten. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch
hinauf in die alten, grauen Felsen, erst noch über schöne,
kräuterreiche Höhen, dann in steiniges Gestrüpp und endlich
zu den kahlen, steilen Felsen hinan.

An die Hütte fest gemacht, der Thalseite zu, hatte sich
der Oehi eine Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife
im Mund, beide Hände auf seine Kniee gelegt und schaute
ruhig zu, wie die Kinder, die Gaißen und die Base Dete
herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von
den Andern überholt worden. Heidi war zuerst oben; es
ging gerade aus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand
entgegen und sagte: "Guten Abend, Großvater!"

"So, so, wie ist das gemeint?" fragte der Alte barsch,
gab dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem
langen, durchdringenden Blick an unter seinen buschigen
Augenbraunen hervor. Heidi gab den langen Blick aus¬
dauernd zurück, ohne nur ein Mal mit den Augen zu

der Voranſchreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm
um ſein Bündel geſchlungen, in der Rechten die Gaißenruthe
ſchwingend. Das Heidi und die Gaißen hüpften und ſprangen
fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei
Viertelſtunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorſprung
des Berges die Hütte des alten Oehi ſtand, allen Winden
ausgeſetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit
der vollen Ausſicht weit in's Thal hinab. Hinter der Hütte
ſtanden drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeſchnittenen
Aeſten. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch
hinauf in die alten, grauen Felſen, erſt noch über ſchöne,
kräuterreiche Höhen, dann in ſteiniges Geſtrüpp und endlich
zu den kahlen, ſteilen Felſen hinan.

An die Hütte feſt gemacht, der Thalſeite zu, hatte ſich
der Oehi eine Bank gezimmert. Hier ſaß er, eine Pfeife
im Mund, beide Hände auf ſeine Kniee gelegt und ſchaute
ruhig zu, wie die Kinder, die Gaißen und die Baſe Dete
herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von
den Andern überholt worden. Heidi war zuerſt oben; es
ging gerade aus auf den Alten zu, ſtreckte ihm die Hand
entgegen und ſagte: „Guten Abend, Großvater!“

„So, ſo, wie iſt das gemeint?“ fragte der Alte barſch,
gab dem Kinde kurz die Hand und ſchaute es mit einem
langen, durchdringenden Blick an unter ſeinen buſchigen
Augenbraunen hervor. Heidi gab den langen Blick aus¬
dauernd zurück, ohne nur ein Mal mit den Augen zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0026" n="16"/>
der Voran&#x017F;chreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm<lb/>
um &#x017F;ein Bündel ge&#x017F;chlungen, in der Rechten die Gaißenruthe<lb/>
&#x017F;chwingend. Das Heidi und die Gaißen hüpften und &#x017F;prangen<lb/>
fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei<lb/>
Viertel&#x017F;tunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vor&#x017F;prung<lb/>
des Berges die Hütte des alten Oehi &#x017F;tand, allen Winden<lb/>
ausge&#x017F;etzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit<lb/>
der vollen Aus&#x017F;icht weit in's Thal hinab. Hinter der Hütte<lb/>
&#x017F;tanden drei alte Tannen mit dichten, langen, unbe&#x017F;chnittenen<lb/>
Ae&#x017F;ten. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch<lb/>
hinauf in die alten, grauen Fel&#x017F;en, er&#x017F;t noch über &#x017F;chöne,<lb/>
kräuterreiche Höhen, dann in &#x017F;teiniges Ge&#x017F;trüpp und endlich<lb/>
zu den kahlen, &#x017F;teilen Fel&#x017F;en hinan.</p><lb/>
        <p>An die Hütte fe&#x017F;t gemacht, der Thal&#x017F;eite zu, hatte &#x017F;ich<lb/>
der Oehi eine Bank gezimmert. Hier &#x017F;aß er, eine Pfeife<lb/>
im Mund, beide Hände auf &#x017F;eine Kniee gelegt und &#x017F;chaute<lb/>
ruhig zu, wie die Kinder, die Gaißen und die Ba&#x017F;e Dete<lb/>
herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von<lb/>
den Andern überholt worden. Heidi war zuer&#x017F;t oben; es<lb/>
ging gerade aus auf den Alten zu, &#x017F;treckte ihm die Hand<lb/>
entgegen und &#x017F;agte: &#x201E;Guten Abend, Großvater!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;So, &#x017F;o, wie i&#x017F;t das gemeint?&#x201C; fragte der Alte bar&#x017F;ch,<lb/>
gab dem Kinde kurz die Hand und &#x017F;chaute es mit einem<lb/>
langen, durchdringenden Blick an unter &#x017F;einen bu&#x017F;chigen<lb/><choice><sic>Angenbraunen</sic><corr>Augenbraunen</corr></choice> hervor. Heidi gab den langen Blick aus¬<lb/>
dauernd zurück, ohne nur ein Mal mit den Augen zu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0026] der Voranſchreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um ſein Bündel geſchlungen, in der Rechten die Gaißenruthe ſchwingend. Das Heidi und die Gaißen hüpften und ſprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelſtunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorſprung des Berges die Hütte des alten Oehi ſtand, allen Winden ausgeſetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Ausſicht weit in's Thal hinab. Hinter der Hütte ſtanden drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeſchnittenen Aeſten. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten, grauen Felſen, erſt noch über ſchöne, kräuterreiche Höhen, dann in ſteiniges Geſtrüpp und endlich zu den kahlen, ſteilen Felſen hinan. An die Hütte feſt gemacht, der Thalſeite zu, hatte ſich der Oehi eine Bank gezimmert. Hier ſaß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf ſeine Kniee gelegt und ſchaute ruhig zu, wie die Kinder, die Gaißen und die Baſe Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von den Andern überholt worden. Heidi war zuerſt oben; es ging gerade aus auf den Alten zu, ſtreckte ihm die Hand entgegen und ſagte: „Guten Abend, Großvater!“ „So, ſo, wie iſt das gemeint?“ fragte der Alte barſch, gab dem Kinde kurz die Hand und ſchaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an unter ſeinen buſchigen Augenbraunen hervor. Heidi gab den langen Blick aus¬ dauernd zurück, ohne nur ein Mal mit den Augen zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/26
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/26>, abgerufen am 21.11.2024.