Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

schlucken: "Es thut so, weil die Alte nicht mehr mitkommt,
sie haben sie verkauft nach Mayenfeld vorgestern, nun
kommt sie nicht mehr auf die Alm."

"Wer ist die Alte?" fragte Heidi zurück.

"Pah, seine Mutter", war die Antwort.

"Wo ist die Großmutter?" rief Heidi wieder.

"Hat keine."

"Und der Großvater?"

"Hat keinen."

"Du armes Schneehöppli du", sagte Heidi und drückte
das Thierlein zärtlich an sich. "Aber jammere jetzt nur
nicht mehr so, siehst du, ich komme nun jeden Tag mit
dir, dann bist du nicht mehr so verlassen, und wenn dir
Etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."

Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an
Heidi's Schulter und meckerte nicht mehr kläglich. Unter¬
dessen hatte Peter sein Mittagsmahl beendet und kam nun
auch wieder zu seiner Heerde und zu Heidi heran, das schon
wieder allerlei Betrachtungen angestellt hatte.

Weitaus die zwei schönsten und saubersten Gaißen der
ganzen Schaar waren Schwänli und Bärli, die sich auch
mit einer gewissen Vornehmheit betrugen, meistens ihre
eignen Wege gingen und besonders dem zudringlichen Türk
abweisend und verächtlich begegneten. Die Thierchen hatten
nun wieder begonnen nach den Büschen hinaufzuklettern,
und jedes hatte seine eigne Weise dabei, die einen leicht¬

ſchlucken: „Es thut ſo, weil die Alte nicht mehr mitkommt,
ſie haben ſie verkauft nach Mayenfeld vorgeſtern, nun
kommt ſie nicht mehr auf die Alm.“

„Wer iſt die Alte?“ fragte Heidi zurück.

„Pah, ſeine Mutter“, war die Antwort.

„Wo iſt die Großmutter?“ rief Heidi wieder.

„Hat keine.“

„Und der Großvater?“

„Hat keinen.“

„Du armes Schneehöppli du“, ſagte Heidi und drückte
das Thierlein zärtlich an ſich. „Aber jammere jetzt nur
nicht mehr ſo, ſiehſt du, ich komme nun jeden Tag mit
dir, dann biſt du nicht mehr ſo verlaſſen, und wenn dir
Etwas fehlt, kannſt du nur zu mir kommen.“

Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt ſeinen Kopf an
Heidi's Schulter und meckerte nicht mehr kläglich. Unter¬
deſſen hatte Peter ſein Mittagsmahl beendet und kam nun
auch wieder zu ſeiner Heerde und zu Heidi heran, das ſchon
wieder allerlei Betrachtungen angeſtellt hatte.

Weitaus die zwei ſchönſten und ſauberſten Gaißen der
ganzen Schaar waren Schwänli und Bärli, die ſich auch
mit einer gewiſſen Vornehmheit betrugen, meiſtens ihre
eignen Wege gingen und beſonders dem zudringlichen Türk
abweiſend und verächtlich begegneten. Die Thierchen hatten
nun wieder begonnen nach den Büſchen hinaufzuklettern,
und jedes hatte ſeine eigne Weiſe dabei, die einen leicht¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0052" n="42"/>
&#x017F;chlucken: &#x201E;Es thut &#x017F;o, weil die Alte nicht mehr mitkommt,<lb/>
&#x017F;ie haben &#x017F;ie verkauft nach Mayenfeld vorge&#x017F;tern, nun<lb/>
kommt &#x017F;ie nicht mehr auf die Alm.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wer i&#x017F;t die Alte?&#x201C; fragte Heidi zurück.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Pah, &#x017F;eine Mutter&#x201C;, war die Antwort.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wo i&#x017F;t die Großmutter?&#x201C; rief Heidi wieder.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Hat keine.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Und der Großvater?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Hat keinen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Du armes Schneehöppli du&#x201C;, &#x017F;agte Heidi und drückte<lb/>
das Thierlein zärtlich an &#x017F;ich. &#x201E;Aber jammere jetzt nur<lb/>
nicht mehr &#x017F;o, &#x017F;ieh&#x017F;t du, ich komme nun jeden Tag mit<lb/>
dir, dann bi&#x017F;t du nicht mehr &#x017F;o verla&#x017F;&#x017F;en, und wenn dir<lb/>
Etwas fehlt, kann&#x017F;t du nur zu mir kommen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt &#x017F;einen Kopf an<lb/>
Heidi's Schulter und meckerte nicht mehr kläglich. Unter¬<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en hatte Peter &#x017F;ein Mittagsmahl beendet und kam nun<lb/>
auch wieder zu &#x017F;einer Heerde und zu Heidi heran, das &#x017F;chon<lb/>
wieder allerlei Betrachtungen ange&#x017F;tellt hatte.</p><lb/>
        <p>Weitaus die zwei &#x017F;chön&#x017F;ten und &#x017F;auber&#x017F;ten Gaißen der<lb/>
ganzen Schaar waren Schwänli und Bärli, die &#x017F;ich auch<lb/>
mit einer gewi&#x017F;&#x017F;en Vornehmheit betrugen, mei&#x017F;tens ihre<lb/>
eignen Wege gingen und be&#x017F;onders dem zudringlichen Türk<lb/>
abwei&#x017F;end und verächtlich begegneten. Die Thierchen hatten<lb/>
nun wieder begonnen nach den Bü&#x017F;chen hinaufzuklettern,<lb/>
und jedes hatte &#x017F;eine eigne Wei&#x017F;e dabei, die einen leicht¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0052] ſchlucken: „Es thut ſo, weil die Alte nicht mehr mitkommt, ſie haben ſie verkauft nach Mayenfeld vorgeſtern, nun kommt ſie nicht mehr auf die Alm.“ „Wer iſt die Alte?“ fragte Heidi zurück. „Pah, ſeine Mutter“, war die Antwort. „Wo iſt die Großmutter?“ rief Heidi wieder. „Hat keine.“ „Und der Großvater?“ „Hat keinen.“ „Du armes Schneehöppli du“, ſagte Heidi und drückte das Thierlein zärtlich an ſich. „Aber jammere jetzt nur nicht mehr ſo, ſiehſt du, ich komme nun jeden Tag mit dir, dann biſt du nicht mehr ſo verlaſſen, und wenn dir Etwas fehlt, kannſt du nur zu mir kommen.“ Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt ſeinen Kopf an Heidi's Schulter und meckerte nicht mehr kläglich. Unter¬ deſſen hatte Peter ſein Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu ſeiner Heerde und zu Heidi heran, das ſchon wieder allerlei Betrachtungen angeſtellt hatte. Weitaus die zwei ſchönſten und ſauberſten Gaißen der ganzen Schaar waren Schwänli und Bärli, die ſich auch mit einer gewiſſen Vornehmheit betrugen, meiſtens ihre eignen Wege gingen und beſonders dem zudringlichen Türk abweiſend und verächtlich begegneten. Die Thierchen hatten nun wieder begonnen nach den Büſchen hinaufzuklettern, und jedes hatte ſeine eigne Weiſe dabei, die einen leicht¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/52
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/52>, abgerufen am 27.11.2024.