Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_134.001 Wir sehen in diesen Dingen plötzlich klar, wenn wir pst_134.023 pst_134.001 Wir sehen in diesen Dingen plötzlich klar, wenn wir pst_134.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0138" n="134"/><lb n="pst_134.001"/> darin, daß wir jede Persönlichkeit im Hinblick auf feste <lb n="pst_134.002"/> Ideen und Werte würdigen. Wir messen sie mit einem <lb n="pst_134.003"/> Maßstab; und nur was in den Bereich des Maßstabes <lb n="pst_134.004"/> fällt, kommt in Betracht – ähnlich wie ein Gericht an <lb n="pst_134.005"/> einem Angeklagten nur interessiert, was mit seiner Tat <lb n="pst_134.006"/> in Beziehung steht. Niemand fragt danach, ob der Dieb <lb n="pst_134.007"/> musikalisch ist oder die Landschaft liebt. Der Epiker <lb n="pst_134.008"/> kennt kein Vorurteil. Deshalb erscheint der Mensch vor <lb n="pst_134.009"/> ihm in reichster Mannigfaltigkeit. Achill, im Zorn auffahrend, <lb n="pst_134.010"/> später die Laute spielend, des Patroklos Freund, <lb n="pst_134.011"/> der unmenschliche Gegner Hektors, der mild Gestimmte <lb n="pst_134.012"/> im letzten Gesang: eines tritt nach dem andern hervor, <lb n="pst_134.013"/> so wie die Gelegenheit es bringt, unbehindert von der <lb n="pst_134.014"/> Idee des Ganzen eines Charakters, von dem Bedürfnis, <lb n="pst_134.015"/> eine Bilanz zu ziehen. Nachträglich ist es allerdings <lb n="pst_134.016"/> möglich, die vielen Eigenschaften Achills in ein Gesamtbild <lb n="pst_134.017"/> zusammenzuziehen. Man mag sich daran versuchen <lb n="pst_134.018"/> wie an dem vielgestaltigen Leben selbst. Homer <lb n="pst_134.019"/> leistet solchem Beginnen nicht Vorschub. Er zeigt, was <lb n="pst_134.020"/> jeweils sichtbar wird. Der Zusammenhang aber bekümmert <lb n="pst_134.021"/> ihn nicht.</p> <lb n="pst_134.022"/> <p> Wir sehen in diesen Dingen plötzlich klar, wenn wir <lb n="pst_134.023"/> bedenken, daß die homerische Welt die Schrift nicht <lb n="pst_134.024"/> kennt. Homer scheint zwar geschrieben zu haben. Er <lb n="pst_134.025"/> sieht in der Schrift aber etwas Modernes und ermißt ihre <lb n="pst_134.026"/> große Leistung noch kaum. Weil er ältere Zeiten schildert, <lb n="pst_134.027"/> vermeidet er es, sie zu erwähnen – ein Umstand, <lb n="pst_134.028"/> den wir offenbar gar nicht hoch genug veranschlagen <lb n="pst_134.029"/> können. Die Schrift ist nämlich gleichsam der Ort der <lb n="pst_134.030"/> dauernden, vom einzelnen Menschen abgelösten Gültigkeit. <lb n="pst_134.031"/> Die Tafeln des Gesetzes im Alten Testament werden </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [134/0138]
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darin, daß wir jede Persönlichkeit im Hinblick auf feste pst_134.002
Ideen und Werte würdigen. Wir messen sie mit einem pst_134.003
Maßstab; und nur was in den Bereich des Maßstabes pst_134.004
fällt, kommt in Betracht – ähnlich wie ein Gericht an pst_134.005
einem Angeklagten nur interessiert, was mit seiner Tat pst_134.006
in Beziehung steht. Niemand fragt danach, ob der Dieb pst_134.007
musikalisch ist oder die Landschaft liebt. Der Epiker pst_134.008
kennt kein Vorurteil. Deshalb erscheint der Mensch vor pst_134.009
ihm in reichster Mannigfaltigkeit. Achill, im Zorn auffahrend, pst_134.010
später die Laute spielend, des Patroklos Freund, pst_134.011
der unmenschliche Gegner Hektors, der mild Gestimmte pst_134.012
im letzten Gesang: eines tritt nach dem andern hervor, pst_134.013
so wie die Gelegenheit es bringt, unbehindert von der pst_134.014
Idee des Ganzen eines Charakters, von dem Bedürfnis, pst_134.015
eine Bilanz zu ziehen. Nachträglich ist es allerdings pst_134.016
möglich, die vielen Eigenschaften Achills in ein Gesamtbild pst_134.017
zusammenzuziehen. Man mag sich daran versuchen pst_134.018
wie an dem vielgestaltigen Leben selbst. Homer pst_134.019
leistet solchem Beginnen nicht Vorschub. Er zeigt, was pst_134.020
jeweils sichtbar wird. Der Zusammenhang aber bekümmert pst_134.021
ihn nicht.
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Wir sehen in diesen Dingen plötzlich klar, wenn wir pst_134.023
bedenken, daß die homerische Welt die Schrift nicht pst_134.024
kennt. Homer scheint zwar geschrieben zu haben. Er pst_134.025
sieht in der Schrift aber etwas Modernes und ermißt ihre pst_134.026
große Leistung noch kaum. Weil er ältere Zeiten schildert, pst_134.027
vermeidet er es, sie zu erwähnen – ein Umstand, pst_134.028
den wir offenbar gar nicht hoch genug veranschlagen pst_134.029
können. Die Schrift ist nämlich gleichsam der Ort der pst_134.030
dauernden, vom einzelnen Menschen abgelösten Gültigkeit. pst_134.031
Die Tafeln des Gesetzes im Alten Testament werden
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