Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_146.001 So nun, ohne Anspruch auf Wahrheit und damit pst_146.007 Im Christentum scheint ein wahrhaft episches Epos pst_146.012 pst_146.001 So nun, ohne Anspruch auf Wahrheit und damit pst_146.007 Im Christentum scheint ein wahrhaft episches Epos pst_146.012 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0150" n="146"/><lb n="pst_146.001"/> andern Götter, die seine Macht beschränken, daneben <lb n="pst_146.002"/> bestehen. So hält er freilich der Logik nicht stand. Und <lb n="pst_146.003"/> wo sich Logik durchsetzt, wird er vielleicht zwar noch <lb n="pst_146.004"/> als Künstler geehrt; das Schöne jedoch, das er verkündet, <lb n="pst_146.005"/> ist nicht mehr, wie ehedem, auch das Wahre.</p> <lb n="pst_146.006"/> <p> So nun, ohne Anspruch auf Wahrheit und damit <lb n="pst_146.007"/> ohne geschichtegründende Kraft, blüht epische Dichtung <lb n="pst_146.008"/> weiter, bei den Griechen und bei den Römern, die <lb n="pst_146.009"/> schon in Ennius und erst recht in Vergil den Griechen <lb n="pst_146.010"/> verpflichtet sind.</p> <lb n="pst_146.011"/> <p> Im Christentum scheint ein wahrhaft episches Epos <lb n="pst_146.012"/> nicht mehr möglich zu sein. Die «Selbständigkeit des <lb n="pst_146.013"/> Teils» ist hier in jedem Sinne aufgehoben. Der Mensch <lb n="pst_146.014"/> wird zum Gegenstand eines Heilsplans. Er findet sich <lb n="pst_146.015"/> vor, belastet mit dem Sündenfall Adams und in Erwartung <lb n="pst_146.016"/> des jüngsten Gerichts. Sein Dasein ist ausgerichtet <lb n="pst_146.017"/> auf eine gewaltige Zukunft, auf ein Jenseits, vor dem <lb n="pst_146.018"/> die sichtbare Welt zum bloßen Durchgang und das Körperliche <lb n="pst_146.019"/> zu einem dünnen Schleier wird. Der Epiker <lb n="pst_146.020"/> dieser Welt ist Dante. Die Transparenz der paradiesischen <lb n="pst_146.021"/> Räume und Gestalten, Gottes ungeheuere magnetische <lb n="pst_146.022"/> Kraft, die alle Wesen nach oben zieht, zeigt <lb n="pst_146.023"/> klar die neue Orientierung, für die ein Verweilen und <lb n="pst_146.024"/> alle Selbstherrlichkeit nur Sünde bedeuten kann. Nun <lb n="pst_146.025"/> gibt es freilich auch in Dantes «Divina commedia» einen <lb n="pst_146.026"/> Bereich, der nicht zu Gott geschaffen ist, dieser heiligen <lb n="pst_146.027"/> Spannung entzogen bleibt und insofern eher dem epischen <lb n="pst_146.028"/> Dasein gleicht; doch dieser Bereich ist die Hölle. <lb n="pst_146.029"/> Der Streit, ob Dante im «Inferno» oder im «Paradies» <lb n="pst_146.030"/> sein Höchstes geboten habe, wogt hin und her. Wer auf <lb n="pst_146.031"/> dem Standpunkt Dantes steht, muß dem «Paradies» </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [146/0150]
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andern Götter, die seine Macht beschränken, daneben pst_146.002
bestehen. So hält er freilich der Logik nicht stand. Und pst_146.003
wo sich Logik durchsetzt, wird er vielleicht zwar noch pst_146.004
als Künstler geehrt; das Schöne jedoch, das er verkündet, pst_146.005
ist nicht mehr, wie ehedem, auch das Wahre.
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So nun, ohne Anspruch auf Wahrheit und damit pst_146.007
ohne geschichtegründende Kraft, blüht epische Dichtung pst_146.008
weiter, bei den Griechen und bei den Römern, die pst_146.009
schon in Ennius und erst recht in Vergil den Griechen pst_146.010
verpflichtet sind.
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Im Christentum scheint ein wahrhaft episches Epos pst_146.012
nicht mehr möglich zu sein. Die «Selbständigkeit des pst_146.013
Teils» ist hier in jedem Sinne aufgehoben. Der Mensch pst_146.014
wird zum Gegenstand eines Heilsplans. Er findet sich pst_146.015
vor, belastet mit dem Sündenfall Adams und in Erwartung pst_146.016
des jüngsten Gerichts. Sein Dasein ist ausgerichtet pst_146.017
auf eine gewaltige Zukunft, auf ein Jenseits, vor dem pst_146.018
die sichtbare Welt zum bloßen Durchgang und das Körperliche pst_146.019
zu einem dünnen Schleier wird. Der Epiker pst_146.020
dieser Welt ist Dante. Die Transparenz der paradiesischen pst_146.021
Räume und Gestalten, Gottes ungeheuere magnetische pst_146.022
Kraft, die alle Wesen nach oben zieht, zeigt pst_146.023
klar die neue Orientierung, für die ein Verweilen und pst_146.024
alle Selbstherrlichkeit nur Sünde bedeuten kann. Nun pst_146.025
gibt es freilich auch in Dantes «Divina commedia» einen pst_146.026
Bereich, der nicht zu Gott geschaffen ist, dieser heiligen pst_146.027
Spannung entzogen bleibt und insofern eher dem epischen pst_146.028
Dasein gleicht; doch dieser Bereich ist die Hölle. pst_146.029
Der Streit, ob Dante im «Inferno» oder im «Paradies» pst_146.030
sein Höchstes geboten habe, wogt hin und her. Wer auf pst_146.031
dem Standpunkt Dantes steht, muß dem «Paradies»
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