Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_149.001 Dennoch, trotz der weisen Beschränkung auf den pst_149.021 pst_149.001 Dennoch, trotz der weisen Beschränkung auf den pst_149.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0153" n="149"/><lb n="pst_149.001"/> in vorderster Reihe. Die Technik des Vortrags ist bis <lb n="pst_149.002"/> ins Einzelne der homerischen nachgebildet. Neu sind <lb n="pst_149.003"/> aber die Gegenstände. Die Dichter wählen idyllische <lb n="pst_149.004"/> Themen. Nur im Idyll vermögen sie noch die Selbständigkeit <lb n="pst_149.005"/> der einzelnen Glieder des Lebens einigermaßen <lb n="pst_149.006"/> zu wahren. Träten sie aus dem Idyll heraus, in das weite <lb n="pst_149.007"/> Feld der modernen Geschichte, der großen politischen <lb n="pst_149.008"/> Institutionen, so würde ihre homerische Technik an <lb n="pst_149.009"/> den Gegenständen zuschanden. Wo alles mit allem <lb n="pst_149.010"/> durch die genaueste Organisation verflochten ist, der <lb n="pst_149.011"/> einzelne Bürger mit dem Staat, der Staat mit dem Recht <lb n="pst_149.012"/> und der öffentlichen Moral, Moral und Recht mit der <lb n="pst_149.013"/> Religion, da ließe sich in parataktischer Darstellung <lb n="pst_149.014"/> überhaupt nichts mehr fassen. Nur die sorgfältigste Abstraktion <lb n="pst_149.015"/> von allem, womit der Tag eines Menschen des <lb n="pst_149.016"/> letzten Jahrhunderts unübersehbar verflochten ist, erlaubt <lb n="pst_149.017"/> eine klassizistische Epik, deren Ängstlichkeit der <lb n="pst_149.018"/> einzige Goethe zu besiegen oder zu verbergen gewußt <lb n="pst_149.019"/> hat.</p> <lb n="pst_149.020"/> <p> Dennoch, trotz der weisen Beschränkung auf den <lb n="pst_149.021"/> Rahmen einer Idylle, weicht auch «Hermann und Dorothea» <lb n="pst_149.022"/> vom Stil der homerischen Epik ab. Goethe selber <lb n="pst_149.023"/> hat das ständige, wenn auch sanfte Vorwärtsdrängen, <lb n="pst_149.024"/> das Fehlen retrogradierender Motive als unepisch <lb n="pst_149.025"/> bezeichnet. Und wenn Schiller in seinem Brief vom <lb n="pst_149.026"/> 26. Dezember 1797 von der «Enge des Schauplatzes», <lb n="pst_149.027"/> von der «Sparsamkeit der Figuren», dem «kurzen Ablauf <lb n="pst_149.028"/> der Handlung» spricht und in solcher Konzentration <lb n="pst_149.029"/> eine Hinneigung zur Tragödie feststellt, wenn er <lb n="pst_149.030"/> außerdem auf die «innige Beschäftigung des Herzens» <lb n="pst_149.031"/> und das «pathologische Interesse» hinweist – womit, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [149/0153]
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in vorderster Reihe. Die Technik des Vortrags ist bis pst_149.002
ins Einzelne der homerischen nachgebildet. Neu sind pst_149.003
aber die Gegenstände. Die Dichter wählen idyllische pst_149.004
Themen. Nur im Idyll vermögen sie noch die Selbständigkeit pst_149.005
der einzelnen Glieder des Lebens einigermaßen pst_149.006
zu wahren. Träten sie aus dem Idyll heraus, in das weite pst_149.007
Feld der modernen Geschichte, der großen politischen pst_149.008
Institutionen, so würde ihre homerische Technik an pst_149.009
den Gegenständen zuschanden. Wo alles mit allem pst_149.010
durch die genaueste Organisation verflochten ist, der pst_149.011
einzelne Bürger mit dem Staat, der Staat mit dem Recht pst_149.012
und der öffentlichen Moral, Moral und Recht mit der pst_149.013
Religion, da ließe sich in parataktischer Darstellung pst_149.014
überhaupt nichts mehr fassen. Nur die sorgfältigste Abstraktion pst_149.015
von allem, womit der Tag eines Menschen des pst_149.016
letzten Jahrhunderts unübersehbar verflochten ist, erlaubt pst_149.017
eine klassizistische Epik, deren Ängstlichkeit der pst_149.018
einzige Goethe zu besiegen oder zu verbergen gewußt pst_149.019
hat.
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Dennoch, trotz der weisen Beschränkung auf den pst_149.021
Rahmen einer Idylle, weicht auch «Hermann und Dorothea» pst_149.022
vom Stil der homerischen Epik ab. Goethe selber pst_149.023
hat das ständige, wenn auch sanfte Vorwärtsdrängen, pst_149.024
das Fehlen retrogradierender Motive als unepisch pst_149.025
bezeichnet. Und wenn Schiller in seinem Brief vom pst_149.026
26. Dezember 1797 von der «Enge des Schauplatzes», pst_149.027
von der «Sparsamkeit der Figuren», dem «kurzen Ablauf pst_149.028
der Handlung» spricht und in solcher Konzentration pst_149.029
eine Hinneigung zur Tragödie feststellt, wenn er pst_149.030
außerdem auf die «innige Beschäftigung des Herzens» pst_149.031
und das «pathologische Interesse» hinweist – womit,
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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