Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_169.001 Der pathetische Held ist unbedingt. Die Dinge, die pst_169.007 In alledem bezeugt das Pathos seine vorwärtstreibende pst_169.021 pst_169.001 Der pathetische Held ist unbedingt. Die Dinge, die pst_169.007 In alledem bezeugt das Pathos seine vorwärtstreibende pst_169.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0173" n="169"/><lb n="pst_169.001"/> mit Niobe, die auf den Höhen des Sipylos vor <lb n="pst_169.002"/> Schmerz zu Stein geworden ist. Marwood bei Lessing <lb n="pst_169.003"/> kündigt sich als «eine neue Medea» an. Nur die einfachgroßen <lb n="pst_169.004"/> mythischen Urgestalten der <foreign xml:lang="grc">πάθη</foreign> werden der <lb n="pst_169.005"/> Höhe des Bewußtseins gerecht.</p> <lb n="pst_169.006"/> <p> Der pathetische Held ist unbedingt. Die Dinge, die <lb n="pst_169.007"/> Umwelt, das Milieu, das Atmosphärische geht ihn nichts <lb n="pst_169.008"/> an. Es existiert überhaupt nicht für ihn, und also auch <lb n="pst_169.009"/> für den Dichter nicht. In der antiken Tragödie und im <lb n="pst_169.010"/> Drama der französischen Klassik fehlen die Szenenangaben <lb n="pst_169.011"/> ganz. Es gibt dafür freilich historische Gründe, <lb n="pst_169.012"/> die aber entbehrlich sind für eine rein ästhetische Würdigung. <lb n="pst_169.013"/> Der blaue Himmel über der Szene oder die <lb n="pst_169.014"/> prächtige Architektur sind dem pathetischen Stil eines <lb n="pst_169.015"/> Sophokles oder Corneille einzig gemäß. Nur in solchen <lb n="pst_169.016"/> unbeengten Räumen konnte der Dichter es wagen, zu <lb n="pst_169.017"/> jenen ebenso mächtigen wie einfachen Vorgängen auszuholen, <lb n="pst_169.018"/> bei deren Anblick ein ganzes Volk oder eine <lb n="pst_169.019"/> ganze Gesellschaft über sich selbst emporgerissen wurde.</p> <lb n="pst_169.020"/> <p> In alledem bezeugt das Pathos seine vorwärtstreibende <lb n="pst_169.021"/> Kraft. Es bewirkt, mit Schiller zu reden, eine gewaltige <lb n="pst_169.022"/> «Präzipitation». Manche antike Tragödien können der <lb n="pst_169.023"/> Handlung fast entraten und dennoch unwiderstehlich <lb n="pst_169.024"/> präzipitieren. In der «Elektra» zum Beispiel erfolgt die <lb n="pst_169.025"/> einzige Tat erst ganz zuletzt. Aber Elektra und Orest <lb n="pst_169.026"/> sind so bewegt von dem, was sein soll, Klytaimnestra <lb n="pst_169.027"/> fürchtet es so, daß die magnetische Kraft des Endes über <lb n="pst_169.028"/> alle Begriffe geht. In den «Persern» ist das einzige Ereignis <lb n="pst_169.029"/> die Nachricht von der Niederlage bei Salamis. <lb n="pst_169.030"/> Aber die Angst vor dem Bericht und, wie er eintrifft, die <lb n="pst_169.031"/> Bemühung, das Entsetzliche zu fassen und auf die Höhe </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [169/0173]
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mit Niobe, die auf den Höhen des Sipylos vor pst_169.002
Schmerz zu Stein geworden ist. Marwood bei Lessing pst_169.003
kündigt sich als «eine neue Medea» an. Nur die einfachgroßen pst_169.004
mythischen Urgestalten der πάθη werden der pst_169.005
Höhe des Bewußtseins gerecht.
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Der pathetische Held ist unbedingt. Die Dinge, die pst_169.007
Umwelt, das Milieu, das Atmosphärische geht ihn nichts pst_169.008
an. Es existiert überhaupt nicht für ihn, und also auch pst_169.009
für den Dichter nicht. In der antiken Tragödie und im pst_169.010
Drama der französischen Klassik fehlen die Szenenangaben pst_169.011
ganz. Es gibt dafür freilich historische Gründe, pst_169.012
die aber entbehrlich sind für eine rein ästhetische Würdigung. pst_169.013
Der blaue Himmel über der Szene oder die pst_169.014
prächtige Architektur sind dem pathetischen Stil eines pst_169.015
Sophokles oder Corneille einzig gemäß. Nur in solchen pst_169.016
unbeengten Räumen konnte der Dichter es wagen, zu pst_169.017
jenen ebenso mächtigen wie einfachen Vorgängen auszuholen, pst_169.018
bei deren Anblick ein ganzes Volk oder eine pst_169.019
ganze Gesellschaft über sich selbst emporgerissen wurde.
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In alledem bezeugt das Pathos seine vorwärtstreibende pst_169.021
Kraft. Es bewirkt, mit Schiller zu reden, eine gewaltige pst_169.022
«Präzipitation». Manche antike Tragödien können der pst_169.023
Handlung fast entraten und dennoch unwiderstehlich pst_169.024
präzipitieren. In der «Elektra» zum Beispiel erfolgt die pst_169.025
einzige Tat erst ganz zuletzt. Aber Elektra und Orest pst_169.026
sind so bewegt von dem, was sein soll, Klytaimnestra pst_169.027
fürchtet es so, daß die magnetische Kraft des Endes über pst_169.028
alle Begriffe geht. In den «Persern» ist das einzige Ereignis pst_169.029
die Nachricht von der Niederlage bei Salamis. pst_169.030
Aber die Angst vor dem Bericht und, wie er eintrifft, die pst_169.031
Bemühung, das Entsetzliche zu fassen und auf die Höhe
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