Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_171.001 Es ist klar, daß die Reise und Heimkehr Faustins nur pst_171.009 Lessings unruhigem Temperament lag es allgemein, pst_171.029 pst_171.001 Es ist klar, daß die Reise und Heimkehr Faustins nur pst_171.009 Lessings unruhigem Temperament lag es allgemein, pst_171.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg> <pb facs="#f0175" n="171"/> <lb n="pst_171.001"/> <l>Und gib mir nicht verdienten Lohn!</l> <lb n="pst_171.002"/> <l>Laß, weil du gnädig bist, mich Tochter, Weib und Sohn</l> <lb n="pst_171.003"/> <l>Gesund und fröhlich wieder finden.»</l> <lb n="pst_171.004"/> <l>So seufzt' Faustin, und Gott erhört den Sünder.</l> <lb n="pst_171.005"/> <l>Er kam und fand sein Haus in Überfluß und Ruh.</l> <lb n="pst_171.006"/> <l>Er fand sein Weib und seine beiden Kinder,</l> <lb n="pst_171.007"/> <l>Und – Segen Gottes! – zwei dazu.»</l> </lg> <lb n="pst_171.008"/> <p> Es ist klar, daß die Reise und Heimkehr Faustins nur <lb n="pst_171.009"/> um der Schlußzeile willen erzählt wird. Ohne diese <lb n="pst_171.010"/> Pointe hätte das Ganze keinen Wert. Wir lesen von Anfang <lb n="pst_171.011"/> an in Erwartung eines Ziels. Wir sind gezwungen, <lb n="pst_171.012"/> so zu lesen, weil uns nichts Einzelnes fesselt. Die Ungeduld <lb n="pst_171.013"/> verschärft sich nach dem Gebet, wo das «Er» am <lb n="pst_171.014"/> Verseingang wiederholt wird, und erreicht nach «Segen <lb n="pst_171.015"/> Gottes!» den Gipfel: Zwei Worte nur bleiben, die das <lb n="pst_171.016"/> Ganze retten müssen. Sie fallen; wir sind überrascht <lb n="pst_171.017"/> und blicken vergnügt auf das Ganze zurück. Erst jetzt <lb n="pst_171.018"/> erkennen wir, warum Faustin sich durch Wucher bereichern <lb n="pst_171.019"/> muß. Wir dürfen am Schluß dem Lachen zulieb <lb n="pst_171.020"/> kein Mitleid empfinden, und Gottes witzige Gnade <lb n="pst_171.021"/> besteht gerade darin, daß die Frau mit <hi rendition="#g">ihrem</hi> Pfunde <lb n="pst_171.022"/> gewuchert hat. Vom Ende aus sind alle Einzelheiten des <lb n="pst_171.023"/> kurzen Gedichts bestimmt. Der Zweck des Dichters <lb n="pst_171.024"/> liegt nicht, wie in der Epik, in jedem Punkt der Bewegung, <lb n="pst_171.025"/> auch nicht in der Art Bewegung, wie in der Lyrik, <lb n="pst_171.026"/> sondern in ihrem Ziel. Alles kommt – im wahrsten <lb n="pst_171.027"/> Sinne des Wortes – auf das Ende an.</p> <lb n="pst_171.028"/> <p> Lessings unruhigem Temperament lag es allgemein, <lb n="pst_171.029"/> so zu verfahren. Er ist ein Meister des Epigramms, von <lb n="pst_171.030"/> dem er behauptet, daß es sich in «Erwartung» und </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [171/0175]
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Und gib mir nicht verdienten Lohn! pst_171.002
Laß, weil du gnädig bist, mich Tochter, Weib und Sohn pst_171.003
Gesund und fröhlich wieder finden.» pst_171.004
So seufzt' Faustin, und Gott erhört den Sünder. pst_171.005
Er kam und fand sein Haus in Überfluß und Ruh. pst_171.006
Er fand sein Weib und seine beiden Kinder, pst_171.007
Und – Segen Gottes! – zwei dazu.»
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Es ist klar, daß die Reise und Heimkehr Faustins nur pst_171.009
um der Schlußzeile willen erzählt wird. Ohne diese pst_171.010
Pointe hätte das Ganze keinen Wert. Wir lesen von Anfang pst_171.011
an in Erwartung eines Ziels. Wir sind gezwungen, pst_171.012
so zu lesen, weil uns nichts Einzelnes fesselt. Die Ungeduld pst_171.013
verschärft sich nach dem Gebet, wo das «Er» am pst_171.014
Verseingang wiederholt wird, und erreicht nach «Segen pst_171.015
Gottes!» den Gipfel: Zwei Worte nur bleiben, die das pst_171.016
Ganze retten müssen. Sie fallen; wir sind überrascht pst_171.017
und blicken vergnügt auf das Ganze zurück. Erst jetzt pst_171.018
erkennen wir, warum Faustin sich durch Wucher bereichern pst_171.019
muß. Wir dürfen am Schluß dem Lachen zulieb pst_171.020
kein Mitleid empfinden, und Gottes witzige Gnade pst_171.021
besteht gerade darin, daß die Frau mit ihrem Pfunde pst_171.022
gewuchert hat. Vom Ende aus sind alle Einzelheiten des pst_171.023
kurzen Gedichts bestimmt. Der Zweck des Dichters pst_171.024
liegt nicht, wie in der Epik, in jedem Punkt der Bewegung, pst_171.025
auch nicht in der Art Bewegung, wie in der Lyrik, pst_171.026
sondern in ihrem Ziel. Alles kommt – im wahrsten pst_171.027
Sinne des Wortes – auf das Ende an.
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Lessings unruhigem Temperament lag es allgemein, pst_171.029
so zu verfahren. Er ist ein Meister des Epigramms, von pst_171.030
dem er behauptet, daß es sich in «Erwartung» und
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