Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_179.001
damit nicht die Teile, sondern die Fugen, nicht pst_179.002
das Einzelne, sondern der ganze Sinnzusammenhang pst_179.003
deutlich werde und nichts in Vergessenheit gerate, was pst_179.004
der Hörer behalten muß. Sinnvoll schließt der Rahmen pst_179.005
der Bühne eine solche Dichtung ein. Mit einem Wort: pst_179.006
sie konzentriert.

pst_179.007

Bekannte dramaturgische Lehren, die diesen Wesenszug pst_179.008
der Bühne bestätigen, seien nur flüchtig erwähnt. pst_179.009
Die Exposition soll kunstgerecht, das heißt, bereits pst_179.010
in die große Bewegung verflochten sein. Ein Aufenthalt pst_179.011
ist nirgends gestattet. Episoden sind von Übel. pst_179.012
Solche und ähnliche Sätze sind nichts als praktische Folgerungen pst_179.013
aus der Idee des problematischen Stils, wo der pst_179.014
Zweck der Bewegung am Ende liegt und demgemäß pst_179.015
jeder Teil nur als Funktion des Ganzen, das sich am pst_179.016
Ende darstellt, in Betracht kommen darf. Auch die einzelnen pst_179.017
Akte bleiben, sofern die beschriebene Gattung pst_179.018
einigermaßen rein erscheint, unselbständig. Den dritten pst_179.019
Akt der "Natürlichen Tochter", die Klage des Herzogs pst_179.020
um den vermeintlichen Tod Eugeniens, mag man pst_179.021
freilich für sich, als ein mehr oder minder geschlossenes pst_179.022
Teilstück, betrachten. Das heißt aber nur, daß dieses pst_179.023
Drama Goethes nicht eigentlich präzipitiert. Einen Akt pst_179.024
aus "Kabale und Liebe", aus dem "Prinz Friedrich von pst_179.025
Homburg" herauszulösen, ist widersinnig, es sei denn, pst_179.026
man setze die Kenntnis des ganzen Werks voraus. Der pst_179.027
Zwischenakt bedeutet nämlich nicht dasselbe wie das pst_179.028
Verstummen des Epikers, der am folgenden Tag oder pst_179.029
wann die Hörer es wünschen, fortfährt. Wenn der Vorhang pst_179.030
fällt, hat das Publikum das Vernommene zu bedenken pst_179.031
und sich klar zu machen, inwiefern es Folgendes

pst_179.001
damit nicht die Teile, sondern die Fugen, nicht pst_179.002
das Einzelne, sondern der ganze Sinnzusammenhang pst_179.003
deutlich werde und nichts in Vergessenheit gerate, was pst_179.004
der Hörer behalten muß. Sinnvoll schließt der Rahmen pst_179.005
der Bühne eine solche Dichtung ein. Mit einem Wort: pst_179.006
sie konzentriert.

pst_179.007

  Bekannte dramaturgische Lehren, die diesen Wesenszug pst_179.008
der Bühne bestätigen, seien nur flüchtig erwähnt. pst_179.009
Die Exposition soll kunstgerecht, das heißt, bereits pst_179.010
in die große Bewegung verflochten sein. Ein Aufenthalt pst_179.011
ist nirgends gestattet. Episoden sind von Übel. pst_179.012
Solche und ähnliche Sätze sind nichts als praktische Folgerungen pst_179.013
aus der Idee des problematischen Stils, wo der pst_179.014
Zweck der Bewegung am Ende liegt und demgemäß pst_179.015
jeder Teil nur als Funktion des Ganzen, das sich am pst_179.016
Ende darstellt, in Betracht kommen darf. Auch die einzelnen pst_179.017
Akte bleiben, sofern die beschriebene Gattung pst_179.018
einigermaßen rein erscheint, unselbständig. Den dritten pst_179.019
Akt der «Natürlichen Tochter», die Klage des Herzogs pst_179.020
um den vermeintlichen Tod Eugeniens, mag man pst_179.021
freilich für sich, als ein mehr oder minder geschlossenes pst_179.022
Teilstück, betrachten. Das heißt aber nur, daß dieses pst_179.023
Drama Goethes nicht eigentlich präzipitiert. Einen Akt pst_179.024
aus «Kabale und Liebe», aus dem «Prinz Friedrich von pst_179.025
Homburg» herauszulösen, ist widersinnig, es sei denn, pst_179.026
man setze die Kenntnis des ganzen Werks voraus. Der pst_179.027
Zwischenakt bedeutet nämlich nicht dasselbe wie das pst_179.028
Verstummen des Epikers, der am folgenden Tag oder pst_179.029
wann die Hörer es wünschen, fortfährt. Wenn der Vorhang pst_179.030
fällt, hat das Publikum das Vernommene zu bedenken pst_179.031
und sich klar zu machen, inwiefern es Folgendes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0183" n="179"/><lb n="pst_179.001"/>
damit nicht die Teile, sondern die Fugen, nicht <lb n="pst_179.002"/>
das Einzelne, sondern der ganze Sinnzusammenhang <lb n="pst_179.003"/>
deutlich werde und nichts in Vergessenheit gerate, was <lb n="pst_179.004"/>
der Hörer behalten muß. Sinnvoll schließt der Rahmen <lb n="pst_179.005"/>
der Bühne eine solche Dichtung ein. Mit einem Wort: <lb n="pst_179.006"/>
sie konzentriert.</p>
          <lb n="pst_179.007"/>
          <p>  Bekannte dramaturgische Lehren, die diesen Wesenszug <lb n="pst_179.008"/>
der Bühne bestätigen, seien nur flüchtig erwähnt. <lb n="pst_179.009"/>
Die Exposition soll kunstgerecht, das heißt, bereits <lb n="pst_179.010"/>
in die große Bewegung verflochten sein. Ein Aufenthalt <lb n="pst_179.011"/>
ist nirgends gestattet. Episoden sind von Übel. <lb n="pst_179.012"/>
Solche und ähnliche Sätze sind nichts als praktische Folgerungen <lb n="pst_179.013"/>
aus der Idee des problematischen Stils, wo der <lb n="pst_179.014"/>
Zweck der Bewegung am Ende liegt und demgemäß <lb n="pst_179.015"/>
jeder Teil nur als Funktion des Ganzen, das sich am <lb n="pst_179.016"/>
Ende darstellt, in Betracht kommen darf. Auch die einzelnen <lb n="pst_179.017"/>
Akte bleiben, sofern die beschriebene Gattung <lb n="pst_179.018"/>
einigermaßen rein erscheint, unselbständig. Den dritten <lb n="pst_179.019"/>
Akt der «Natürlichen Tochter», die Klage des Herzogs <lb n="pst_179.020"/>
um den vermeintlichen Tod Eugeniens, mag man <lb n="pst_179.021"/>
freilich für sich, als ein mehr oder minder geschlossenes <lb n="pst_179.022"/>
Teilstück, betrachten. Das heißt aber nur, daß dieses <lb n="pst_179.023"/>
Drama Goethes nicht eigentlich präzipitiert. Einen Akt <lb n="pst_179.024"/>
aus «Kabale und Liebe», aus dem «Prinz Friedrich von <lb n="pst_179.025"/>
Homburg» herauszulösen, ist widersinnig, es sei denn, <lb n="pst_179.026"/>
man setze die Kenntnis des ganzen Werks voraus. Der <lb n="pst_179.027"/>
Zwischenakt bedeutet nämlich nicht dasselbe wie das <lb n="pst_179.028"/>
Verstummen des Epikers, der am folgenden Tag oder <lb n="pst_179.029"/>
wann die Hörer es wünschen, fortfährt. Wenn der Vorhang <lb n="pst_179.030"/>
fällt, hat das Publikum das Vernommene zu bedenken <lb n="pst_179.031"/>
und sich klar zu machen, inwiefern es Folgendes
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[179/0183] pst_179.001 damit nicht die Teile, sondern die Fugen, nicht pst_179.002 das Einzelne, sondern der ganze Sinnzusammenhang pst_179.003 deutlich werde und nichts in Vergessenheit gerate, was pst_179.004 der Hörer behalten muß. Sinnvoll schließt der Rahmen pst_179.005 der Bühne eine solche Dichtung ein. Mit einem Wort: pst_179.006 sie konzentriert. pst_179.007   Bekannte dramaturgische Lehren, die diesen Wesenszug pst_179.008 der Bühne bestätigen, seien nur flüchtig erwähnt. pst_179.009 Die Exposition soll kunstgerecht, das heißt, bereits pst_179.010 in die große Bewegung verflochten sein. Ein Aufenthalt pst_179.011 ist nirgends gestattet. Episoden sind von Übel. pst_179.012 Solche und ähnliche Sätze sind nichts als praktische Folgerungen pst_179.013 aus der Idee des problematischen Stils, wo der pst_179.014 Zweck der Bewegung am Ende liegt und demgemäß pst_179.015 jeder Teil nur als Funktion des Ganzen, das sich am pst_179.016 Ende darstellt, in Betracht kommen darf. Auch die einzelnen pst_179.017 Akte bleiben, sofern die beschriebene Gattung pst_179.018 einigermaßen rein erscheint, unselbständig. Den dritten pst_179.019 Akt der «Natürlichen Tochter», die Klage des Herzogs pst_179.020 um den vermeintlichen Tod Eugeniens, mag man pst_179.021 freilich für sich, als ein mehr oder minder geschlossenes pst_179.022 Teilstück, betrachten. Das heißt aber nur, daß dieses pst_179.023 Drama Goethes nicht eigentlich präzipitiert. Einen Akt pst_179.024 aus «Kabale und Liebe», aus dem «Prinz Friedrich von pst_179.025 Homburg» herauszulösen, ist widersinnig, es sei denn, pst_179.026 man setze die Kenntnis des ganzen Werks voraus. Der pst_179.027 Zwischenakt bedeutet nämlich nicht dasselbe wie das pst_179.028 Verstummen des Epikers, der am folgenden Tag oder pst_179.029 wann die Hörer es wünschen, fortfährt. Wenn der Vorhang pst_179.030 fällt, hat das Publikum das Vernommene zu bedenken pst_179.031 und sich klar zu machen, inwiefern es Folgendes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/183
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/183>, abgerufen am 25.11.2024.