Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_206.001 Am nächsten kommt der reinen Tragik vielleicht die pst_206.012 pst_206.001 Am nächsten kommt der reinen Tragik vielleicht die pst_206.012 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0210" n="206"/><lb n="pst_206.001"/> das Tragische. Aber den unerbittlich konsequenten <lb n="pst_206.002"/> Geist muß es zerstören. Er endet im Wahnsinn oder <lb n="pst_206.003"/> im Selbstmord, wenn die Müdigkeit nicht schonende <lb n="pst_206.004"/> Dämmerung über die Seele legt. So kommt das Tragische <lb n="pst_206.005"/> rein oder unmittelbar in der Dichtung nie zu Wort. <lb n="pst_206.006"/> Der es aussprechen könnte, ist bereits aus der Sphäre <lb n="pst_206.007"/> des einem anderen Menschen verständlichen Daseins <lb n="pst_206.008"/> gerückt. Verständlichkeit beruht auf der Gemeinschaft <lb n="pst_206.009"/> einer begrenzten Welt. Ihr Rahmen aber wird ja gerade <lb n="pst_206.010"/> in tragischer Verzweiflung gesprengt.</p> <lb n="pst_206.011"/> <p> Am nächsten kommt der reinen Tragik vielleicht die <lb n="pst_206.012"/> «Familie Schroffenstein» mit Johanns schrillem Gelächter <lb n="pst_206.013"/> am Schluß, das unmittelbar den Ausbruch des <lb n="pst_206.014"/> Wahnsinns auch im Dichter befürchten läßt und den <lb n="pst_206.015"/> Zuschauer eisig, wie ein Hauch aus lebensfeindlichen <lb n="pst_206.016"/> Zonen, anweht. Kleists Erstling ist eben deshalb ein <lb n="pst_206.017"/> künstlerisch beinah unerträgliches Werk. Später hat <lb n="pst_206.018"/> Kleist die Katastrophe der Wahrheit oder der Liebe von <lb n="pst_206.019"/> einer höheren Warte aus dargestellt. In Alkmene, in <lb n="pst_206.020"/> den letzten Gebärden und Worten Penthesileas, im Glanz <lb n="pst_206.021"/> von Homburgs zweiter Mondnacht ist die Möglichkeit <lb n="pst_206.022"/> eines gnadenhaften Zustands ausgesprochen, den Gottes <lb n="pst_206.023"/> unbegreifliche Willkür dem Menschen wohl einmal <lb n="pst_206.024"/> gewähren kann, eine Möglichkeit, die Kleist im Auge <lb n="pst_206.025"/> behielt, so lange er lebte, an der er erst in den letzten <lb n="pst_206.026"/> Tagen für seine Person verzweifelt ist. Schiller führt im <lb n="pst_206.027"/> «Wallenstein» die Tragödie des Realismus durch. Er <lb n="pst_206.028"/> selber aber hat hier den Boden des Realismus, auf dem <lb n="pst_206.029"/> er als junger Dichter stand, bereits verlassen und sieht <lb n="pst_206.030"/> von der Höhe der Kantischen Freiheit dem Schicksal <lb n="pst_206.031"/> seines Helden zu. Das heißt, der Dichter ist imstande, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [206/0210]
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das Tragische. Aber den unerbittlich konsequenten pst_206.002
Geist muß es zerstören. Er endet im Wahnsinn oder pst_206.003
im Selbstmord, wenn die Müdigkeit nicht schonende pst_206.004
Dämmerung über die Seele legt. So kommt das Tragische pst_206.005
rein oder unmittelbar in der Dichtung nie zu Wort. pst_206.006
Der es aussprechen könnte, ist bereits aus der Sphäre pst_206.007
des einem anderen Menschen verständlichen Daseins pst_206.008
gerückt. Verständlichkeit beruht auf der Gemeinschaft pst_206.009
einer begrenzten Welt. Ihr Rahmen aber wird ja gerade pst_206.010
in tragischer Verzweiflung gesprengt.
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Am nächsten kommt der reinen Tragik vielleicht die pst_206.012
«Familie Schroffenstein» mit Johanns schrillem Gelächter pst_206.013
am Schluß, das unmittelbar den Ausbruch des pst_206.014
Wahnsinns auch im Dichter befürchten läßt und den pst_206.015
Zuschauer eisig, wie ein Hauch aus lebensfeindlichen pst_206.016
Zonen, anweht. Kleists Erstling ist eben deshalb ein pst_206.017
künstlerisch beinah unerträgliches Werk. Später hat pst_206.018
Kleist die Katastrophe der Wahrheit oder der Liebe von pst_206.019
einer höheren Warte aus dargestellt. In Alkmene, in pst_206.020
den letzten Gebärden und Worten Penthesileas, im Glanz pst_206.021
von Homburgs zweiter Mondnacht ist die Möglichkeit pst_206.022
eines gnadenhaften Zustands ausgesprochen, den Gottes pst_206.023
unbegreifliche Willkür dem Menschen wohl einmal pst_206.024
gewähren kann, eine Möglichkeit, die Kleist im Auge pst_206.025
behielt, so lange er lebte, an der er erst in den letzten pst_206.026
Tagen für seine Person verzweifelt ist. Schiller führt im pst_206.027
«Wallenstein» die Tragödie des Realismus durch. Er pst_206.028
selber aber hat hier den Boden des Realismus, auf dem pst_206.029
er als junger Dichter stand, bereits verlassen und sieht pst_206.030
von der Höhe der Kantischen Freiheit dem Schicksal pst_206.031
seines Helden zu. Das heißt, der Dichter ist imstande,
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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