Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_232.001 "... wenn wir unterschieden haben, pst_232.006 pst_232.009Dann müssen wir lebendige Gaben pst_232.007 Dem Abgesonderten wieder verleihn pst_232.008 Und uns eines Folge-Lebens erfreun."1 Der Übergang vom Fließenden zum Starren könnte pst_232.010 Indes gewinnt die Dreiteilung lyrisch - episch - dramatisch pst_232.018 "Hielte diesen frühen Segen pst_232.028 Ach, nur Eine Stunde fest! pst_232.029 Aber vollen Blütenregen 1 pst_232.030
Goethe, Sämtliche Werke, Inselausgabe, XV, S. 283. pst_232.001 «... wenn wir unterschieden haben, pst_232.006 pst_232.009Dann müssen wir lebendige Gaben pst_232.007 Dem Abgesonderten wieder verleihn pst_232.008 Und uns eines Folge-Lebens erfreun.»1 Der Übergang vom Fließenden zum Starren könnte pst_232.010 Indes gewinnt die Dreiteilung lyrisch – episch – dramatisch pst_232.018 «Hielte diesen frühen Segen pst_232.028 Ach, nur Eine Stunde fest! pst_232.029 Aber vollen Blütenregen 1 pst_232.030
Goethe, Sämtliche Werke, Inselausgabe, XV, S. 283. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0236" n="232"/><lb n="pst_232.001"/> menschliche Gestalt. Sondern an einem Ganzen, das, <lb n="pst_232.002"/> wie das Farbenspektrum, unmerklich von einem Extrem <lb n="pst_232.003"/> ins andere übergeht, wird diese und jene Phase markiert <lb n="pst_232.004"/> und wird ausgesprochen: sie heiße so! Doch</p> <lb n="pst_232.005"/> <lg> <l>«... wenn wir unterschieden haben,</l> <lb n="pst_232.006"/> <l>Dann müssen wir lebendige Gaben</l> <lb n="pst_232.007"/> <l>Dem Abgesonderten wieder verleihn</l> <lb n="pst_232.008"/> <l>Und uns eines Folge-Lebens erfreun.»<note xml:id="PST_232_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_232.030"/> Goethe, Sämtliche Werke, Inselausgabe, XV, S. 283.</note></l> </lg> <lb n="pst_232.009"/> <p>Der Übergang vom Fließenden zum Starren könnte <lb n="pst_232.010"/> auch, statt mit drei, mit vier und mehr Namen bezeichnet <lb n="pst_232.011"/> werden. Und sehr wohl wäre es denkbar, daß ein <lb n="pst_232.012"/> Schwede, ein Russe, ein Spanier, ein Türke, der von andern <lb n="pst_232.013"/> Erfahrungen ausgeht, dasselbe Ganze anders abteilt <lb n="pst_232.014"/> – wie das griechische Wort <foreign xml:lang="grc">χλωρός</foreign> aus dem Farbenspektrum <lb n="pst_232.015"/> ein Stück ausschneidet, das etwa die Hälfte <lb n="pst_232.016"/> unseres Grün mit der Hälfte unseres Gelb vereint.</p> <lb n="pst_232.017"/> <p> Indes gewinnt die Dreiteilung lyrisch – episch – dramatisch <lb n="pst_232.018"/> zuletzt denn doch eine eigentümliche Dignität, <lb n="pst_232.019"/> da sich herausstellt: sie gründet in der dreidimensionalen <lb n="pst_232.020"/> Zeit. Im Fließenden des Lyrischen hören wir den <lb n="pst_232.021"/> Strom der Vergänglichkeit, der unablässig weiterrinnt, <lb n="pst_232.022"/> so, daß niemand, nach Heraklit, zweimal in denselben <lb n="pst_232.023"/> Fluß eintaucht. Erinnernd läßt der Mensch sich aus der <lb n="pst_232.024"/> Gegenwart in den Fluß hinab und schwimmt auf den <lb n="pst_232.025"/> gleitenden Wellen mit. Da ist kein Verweilen. Es treibt <lb n="pst_232.026"/> ihn fort.</p> <lb n="pst_232.027"/> <lg> <l>«Hielte diesen frühen Segen</l> <lb n="pst_232.028"/> <l>Ach, nur Eine Stunde fest!</l> <lb n="pst_232.029"/> <l>Aber vollen Blütenregen</l> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [232/0236]
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menschliche Gestalt. Sondern an einem Ganzen, das, pst_232.002
wie das Farbenspektrum, unmerklich von einem Extrem pst_232.003
ins andere übergeht, wird diese und jene Phase markiert pst_232.004
und wird ausgesprochen: sie heiße so! Doch
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«... wenn wir unterschieden haben, pst_232.006
Dann müssen wir lebendige Gaben pst_232.007
Dem Abgesonderten wieder verleihn pst_232.008
Und uns eines Folge-Lebens erfreun.» 1
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Der Übergang vom Fließenden zum Starren könnte pst_232.010
auch, statt mit drei, mit vier und mehr Namen bezeichnet pst_232.011
werden. Und sehr wohl wäre es denkbar, daß ein pst_232.012
Schwede, ein Russe, ein Spanier, ein Türke, der von andern pst_232.013
Erfahrungen ausgeht, dasselbe Ganze anders abteilt pst_232.014
– wie das griechische Wort χλωρός aus dem Farbenspektrum pst_232.015
ein Stück ausschneidet, das etwa die Hälfte pst_232.016
unseres Grün mit der Hälfte unseres Gelb vereint.
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Indes gewinnt die Dreiteilung lyrisch – episch – dramatisch pst_232.018
zuletzt denn doch eine eigentümliche Dignität, pst_232.019
da sich herausstellt: sie gründet in der dreidimensionalen pst_232.020
Zeit. Im Fließenden des Lyrischen hören wir den pst_232.021
Strom der Vergänglichkeit, der unablässig weiterrinnt, pst_232.022
so, daß niemand, nach Heraklit, zweimal in denselben pst_232.023
Fluß eintaucht. Erinnernd läßt der Mensch sich aus der pst_232.024
Gegenwart in den Fluß hinab und schwimmt auf den pst_232.025
gleitenden Wellen mit. Da ist kein Verweilen. Es treibt pst_232.026
ihn fort.
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«Hielte diesen frühen Segen pst_232.028
Ach, nur Eine Stunde fest! pst_232.029
Aber vollen Blütenregen
1 pst_232.030
Goethe, Sämtliche Werke, Inselausgabe, XV, S. 283.
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