Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_030.001 Je reiner lyrisch ein Gedicht ist, desto mehr verleugnet pst_030.002 pst_030.012 Wenn aber der Takt nicht wesentlich ist, sind andere pst_030.013 pst_030.016 "Ich wandre durch die stille Nacht, pst_030.017 Da schleicht der Mond so heimlich sacht pst_030.018 Oft aus der dunklen Wolkenhülle, pst_030.019 Und hin und her im Tal pst_030.020 Erwacht die Nachtigall, pst_030.021 Dann wieder alles grau und stille. pst_030.022 pst_030.028O wunderbarer Nachtgesang: pst_030.023 Von fern im Land der Ströme Gang, pst_030.024 Leis Schauern in den dunklen Bäumen - pst_030.025 Wirrst die Gedanken mir, pst_030.026 Mein irres Singen hier pst_030.027 Ist wie ein Rufen nur aus Träumen." Metrische Unterschiede finden sich hier so wenig wie pst_030.029 pst_030.001 Je reiner lyrisch ein Gedicht ist, desto mehr verleugnet pst_030.002 pst_030.012 Wenn aber der Takt nicht wesentlich ist, sind andere pst_030.013 pst_030.016 «Ich wandre durch die stille Nacht, pst_030.017 Da schleicht der Mond so heimlich sacht pst_030.018 Oft aus der dunklen Wolkenhülle, pst_030.019 Und hin und her im Tal pst_030.020 Erwacht die Nachtigall, pst_030.021 Dann wieder alles grau und stille. pst_030.022 pst_030.028O wunderbarer Nachtgesang: pst_030.023 Von fern im Land der Ströme Gang, pst_030.024 Leis Schauern in den dunklen Bäumen – pst_030.025 Wirrst die Gedanken mir, pst_030.026 Mein irres Singen hier pst_030.027 Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.» Metrische Unterschiede finden sich hier so wenig wie pst_030.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0034" n="30"/> <lb n="pst_030.001"/> <p> Je reiner lyrisch ein Gedicht ist, desto mehr verleugnet <lb n="pst_030.002"/> es die neutrale Wiederholung des Takts, nicht in <lb n="pst_030.003"/> Richtung auf die Prosa, sondern zugunsten eines im <lb n="pst_030.004"/> Einklang mit der Stimmung sich wandelnden Rhythmus. <lb n="pst_030.005"/> Das ist nur der metrische Ausdruck dafür, daß in <lb n="pst_030.006"/> lyrischer Dichtung ein Ich und ein Gegenstand einander <lb n="pst_030.007"/> noch kaum gegenüberstehen. Bei Schiller dagegen <lb n="pst_030.008"/> ist der Abstand besonders groß, was der schroffen Antithese <lb n="pst_030.009"/> einer in allem Wandel identischen Person und <lb n="pst_030.010"/> eines wandelbaren Zustands in seiner Ästhetik entspricht.</p> <lb n="pst_030.011"/> <lb n="pst_030.012"/> <p> Wenn aber der Takt nicht wesentlich ist, sind andere <lb n="pst_030.013"/> Wiederholungen möglich? Eichendorffs «Nachts» besteht <lb n="pst_030.014"/> aus den beiden metrisch gleichgebauten Strophen:</p> <lb n="pst_030.015"/> <lb n="pst_030.016"/> <lg> <l>«Ich wandre durch die stille Nacht,</l> <lb n="pst_030.017"/> <l>Da schleicht der Mond so heimlich sacht</l> <lb n="pst_030.018"/> <l>Oft aus der dunklen Wolkenhülle,</l> <lb n="pst_030.019"/> <l>Und hin und her im Tal</l> <lb n="pst_030.020"/> <l>Erwacht die Nachtigall,</l> <lb n="pst_030.021"/> <l>Dann wieder alles grau und stille. </l> </lg> <lg> <lb n="pst_030.022"/> <l>O wunderbarer Nachtgesang:</l> <lb n="pst_030.023"/> <l>Von fern im Land der Ströme Gang,</l> <lb n="pst_030.024"/> <l>Leis Schauern in den dunklen Bäumen –</l> <lb n="pst_030.025"/> <l>Wirrst die Gedanken mir,</l> <lb n="pst_030.026"/> <l>Mein irres Singen hier</l> <lb n="pst_030.027"/> <l>Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.»</l> </lg> <lb n="pst_030.028"/> <p> Metrische Unterschiede finden sich hier so wenig wie <lb n="pst_030.029"/> in den vier Strophen von Mörikes «Verborgenheit». <lb n="pst_030.030"/> Doch auch in rhythmischer Hinsicht unterscheiden sich </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [30/0034]
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Je reiner lyrisch ein Gedicht ist, desto mehr verleugnet pst_030.002
es die neutrale Wiederholung des Takts, nicht in pst_030.003
Richtung auf die Prosa, sondern zugunsten eines im pst_030.004
Einklang mit der Stimmung sich wandelnden Rhythmus. pst_030.005
Das ist nur der metrische Ausdruck dafür, daß in pst_030.006
lyrischer Dichtung ein Ich und ein Gegenstand einander pst_030.007
noch kaum gegenüberstehen. Bei Schiller dagegen pst_030.008
ist der Abstand besonders groß, was der schroffen Antithese pst_030.009
einer in allem Wandel identischen Person und pst_030.010
eines wandelbaren Zustands in seiner Ästhetik entspricht.
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Wenn aber der Takt nicht wesentlich ist, sind andere pst_030.013
Wiederholungen möglich? Eichendorffs «Nachts» besteht pst_030.014
aus den beiden metrisch gleichgebauten Strophen:
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«Ich wandre durch die stille Nacht, pst_030.017
Da schleicht der Mond so heimlich sacht pst_030.018
Oft aus der dunklen Wolkenhülle, pst_030.019
Und hin und her im Tal pst_030.020
Erwacht die Nachtigall, pst_030.021
Dann wieder alles grau und stille.
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O wunderbarer Nachtgesang: pst_030.023
Von fern im Land der Ströme Gang, pst_030.024
Leis Schauern in den dunklen Bäumen – pst_030.025
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Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.»
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Metrische Unterschiede finden sich hier so wenig wie pst_030.029
in den vier Strophen von Mörikes «Verborgenheit». pst_030.030
Doch auch in rhythmischer Hinsicht unterscheiden sich
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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