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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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C. Das System der Armenpflege.

Das System der Armenpflege entsteht nun, indem die Verschieden-
heit der Verhältnisse der Armuth der unterstützenden Thätigkeit eine
verschiedene Aufgabe und mithin auch verschiedene Formen gibt. Das
System bildet sich eben deßhalb auch nicht einheitlich und als ein
Ganzes aus, sondern vielmehr geht jedes Gebiet mit eigener Grund-
lage, eigenen Mitteln, eigener Verwaltung und meist sogar mit eigener
Gesetzgebung vor. Die Wissenschaft erkennt es aber als ein Ganzes,
das im Wesentlichen in drei Gebiete zerfällt; die Armenkinder-
pflege
, das Armenkrankenwesen und die eigentliche Armen-
pflege.

1) Die Armenkinderpflege.

Die Pflege der Armenkinder gibt es ursprünglich nicht; sie ist mit
der eigentlichen Armenpflege ungeschieden verbunden. Es ist das un-
sterbliche Verdienst von Vincent de St. Paul, die Sorge für die Ar-
menkinder von der allgemeinen Armenpflege getrennt, und die sittliche
Nothwendigkeit, der ersteren eine selbständige Grundlage zu geben, fest-
gestellt zu haben. Das achtzehnte Jahrhundert hat daraus die recht-
lichen Elemente eines eigenen Systems in der Waisenpflege und
den Findelhäusern gebildet; das neunzehnte Jahrhundert hat das
ganze Gebiet mit dem Bewußtsein einer socialen Aufgabe durchdrungen
und die Sorge für den Unterhalt der Kinder zugleich zu einer Er-
ziehungsaufgabe gemacht, indem sie die Krippen und Warteschulen
hinzufügte. So ist aus dem Ganzen ein hochwichtiges, zugleich prakti-
sches und wissenschaftliches System geworden, das wiederum den Ueber-
gang zur gesellschaftlichen Bewegung und Entwicklung der niederen
Classe bildet. Jeder einzelne Theil besitzt jetzt seine Anstalten, seine
Literatur und zum Theil auch seine Gesetzgebung.

a) Waisenpflege.

In der Waisenpflege zuerst löst sich die Sorge für die Armen-
kinder zuerst von der allgemeinen Armenpflege los; ihre nächste Auf-
gabe besteht allerdings darin, die Eltern für die Kinder in Beziehung
auf das materielle Bedürfniß zu ersetzen; ihre höhere Entwicklung
geht aber dahin, durch eine möglichst gute Erziehung sie für die Zu-
kunft erwerbsfähig zu machen. Die ersten Waisenhäuser sind daher
Armenkinder-Anstalten, die Waisenhäuser werden aber namentlich mit
dem neunzehnten Jahrhundert Armen-Erziehungsanstalten. Das
ist ihr gegenwärtiger Standpunkt. Sie sind daher örtliche Armen-
anstalten. Sie sind nur möglich, wo die Gemeinde so groß ist,

C. Das Syſtem der Armenpflege.

Das Syſtem der Armenpflege entſteht nun, indem die Verſchieden-
heit der Verhältniſſe der Armuth der unterſtützenden Thätigkeit eine
verſchiedene Aufgabe und mithin auch verſchiedene Formen gibt. Das
Syſtem bildet ſich eben deßhalb auch nicht einheitlich und als ein
Ganzes aus, ſondern vielmehr geht jedes Gebiet mit eigener Grund-
lage, eigenen Mitteln, eigener Verwaltung und meiſt ſogar mit eigener
Geſetzgebung vor. Die Wiſſenſchaft erkennt es aber als ein Ganzes,
das im Weſentlichen in drei Gebiete zerfällt; die Armenkinder-
pflege
, das Armenkrankenweſen und die eigentliche Armen-
pflege.

1) Die Armenkinderpflege.

Die Pflege der Armenkinder gibt es urſprünglich nicht; ſie iſt mit
der eigentlichen Armenpflege ungeſchieden verbunden. Es iſt das un-
ſterbliche Verdienſt von Vincent de St. Paul, die Sorge für die Ar-
menkinder von der allgemeinen Armenpflege getrennt, und die ſittliche
Nothwendigkeit, der erſteren eine ſelbſtändige Grundlage zu geben, feſt-
geſtellt zu haben. Das achtzehnte Jahrhundert hat daraus die recht-
lichen Elemente eines eigenen Syſtems in der Waiſenpflege und
den Findelhäuſern gebildet; das neunzehnte Jahrhundert hat das
ganze Gebiet mit dem Bewußtſein einer ſocialen Aufgabe durchdrungen
und die Sorge für den Unterhalt der Kinder zugleich zu einer Er-
ziehungsaufgabe gemacht, indem ſie die Krippen und Warteſchulen
hinzufügte. So iſt aus dem Ganzen ein hochwichtiges, zugleich prakti-
ſches und wiſſenſchaftliches Syſtem geworden, das wiederum den Ueber-
gang zur geſellſchaftlichen Bewegung und Entwicklung der niederen
Claſſe bildet. Jeder einzelne Theil beſitzt jetzt ſeine Anſtalten, ſeine
Literatur und zum Theil auch ſeine Geſetzgebung.

a) Waiſenpflege.

In der Waiſenpflege zuerſt löst ſich die Sorge für die Armen-
kinder zuerſt von der allgemeinen Armenpflege los; ihre nächſte Auf-
gabe beſteht allerdings darin, die Eltern für die Kinder in Beziehung
auf das materielle Bedürfniß zu erſetzen; ihre höhere Entwicklung
geht aber dahin, durch eine möglichſt gute Erziehung ſie für die Zu-
kunft erwerbsfähig zu machen. Die erſten Waiſenhäuſer ſind daher
Armenkinder-Anſtalten, die Waiſenhäuſer werden aber namentlich mit
dem neunzehnten Jahrhundert Armen-Erziehungsanſtalten. Das
iſt ihr gegenwärtiger Standpunkt. Sie ſind daher örtliche Armen-
anſtalten. Sie ſind nur möglich, wo die Gemeinde ſo groß iſt,

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[432/0456] C. Das Syſtem der Armenpflege. Das Syſtem der Armenpflege entſteht nun, indem die Verſchieden- heit der Verhältniſſe der Armuth der unterſtützenden Thätigkeit eine verſchiedene Aufgabe und mithin auch verſchiedene Formen gibt. Das Syſtem bildet ſich eben deßhalb auch nicht einheitlich und als ein Ganzes aus, ſondern vielmehr geht jedes Gebiet mit eigener Grund- lage, eigenen Mitteln, eigener Verwaltung und meiſt ſogar mit eigener Geſetzgebung vor. Die Wiſſenſchaft erkennt es aber als ein Ganzes, das im Weſentlichen in drei Gebiete zerfällt; die Armenkinder- pflege, das Armenkrankenweſen und die eigentliche Armen- pflege. 1) Die Armenkinderpflege. Die Pflege der Armenkinder gibt es urſprünglich nicht; ſie iſt mit der eigentlichen Armenpflege ungeſchieden verbunden. Es iſt das un- ſterbliche Verdienſt von Vincent de St. Paul, die Sorge für die Ar- menkinder von der allgemeinen Armenpflege getrennt, und die ſittliche Nothwendigkeit, der erſteren eine ſelbſtändige Grundlage zu geben, feſt- geſtellt zu haben. Das achtzehnte Jahrhundert hat daraus die recht- lichen Elemente eines eigenen Syſtems in der Waiſenpflege und den Findelhäuſern gebildet; das neunzehnte Jahrhundert hat das ganze Gebiet mit dem Bewußtſein einer ſocialen Aufgabe durchdrungen und die Sorge für den Unterhalt der Kinder zugleich zu einer Er- ziehungsaufgabe gemacht, indem ſie die Krippen und Warteſchulen hinzufügte. So iſt aus dem Ganzen ein hochwichtiges, zugleich prakti- ſches und wiſſenſchaftliches Syſtem geworden, das wiederum den Ueber- gang zur geſellſchaftlichen Bewegung und Entwicklung der niederen Claſſe bildet. Jeder einzelne Theil beſitzt jetzt ſeine Anſtalten, ſeine Literatur und zum Theil auch ſeine Geſetzgebung. a) Waiſenpflege. In der Waiſenpflege zuerſt löst ſich die Sorge für die Armen- kinder zuerſt von der allgemeinen Armenpflege los; ihre nächſte Auf- gabe beſteht allerdings darin, die Eltern für die Kinder in Beziehung auf das materielle Bedürfniß zu erſetzen; ihre höhere Entwicklung geht aber dahin, durch eine möglichſt gute Erziehung ſie für die Zu- kunft erwerbsfähig zu machen. Die erſten Waiſenhäuſer ſind daher Armenkinder-Anſtalten, die Waiſenhäuſer werden aber namentlich mit dem neunzehnten Jahrhundert Armen-Erziehungsanſtalten. Das iſt ihr gegenwärtiger Standpunkt. Sie ſind daher örtliche Armen- anſtalten. Sie ſind nur möglich, wo die Gemeinde ſo groß iſt,

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/456>, abgerufen am 23.11.2024.