der wirklichen Vollziehung keine Rede sein. Es ist mithin ganz undenkbar, wegen einer solchen Differenz zwischen Verordnungen, Ver- fügungen und Handlungen eine Klage erheben zu können, welche ja unbedingt ein erworbenes Recht voraussetzt. Sondern vermöge jener Freiheit der vollziehenden Gewalt kann, wenn der Einzelne durch eine solche Differenz sich beeinträchtigt glaubt, nur ein Proceß eintreten, welcher die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der den Einzelnen treffenden Handlung mit dem Willen der vollziehen- den Gewalt constatirt. Und dieser Proceß ist eben die Beschwerde.
Diese Beschwerde kann daher, ihrem eigensten Wesen nach, gar nicht von einem Gerichte entschieden werden. Der unauflösbare Wider- spruch, der hier in einer Thätigkeit des Gerichts läge, liegt auf der Hand. Das Gericht müßte dadurch das Recht bekommen, der Voll- ziehung das Festhalten an dem, in ihrer Verordnung ausgesprochenen Willen zur Pflicht zu machen, und für das Nichtfesthalten -- die Ab- weichung von demselben -- derselben die Haftung zuzuschreiben. Es leuchtet ein, daß ein solcher Satz das innerste Wesen der Vollziehung vernichten und das ganze lebendige Staatswesen gerade in dem Punkt tödten würde, wo es der Wirklichkeit angehört. Nur der entschiedene Mangel an Verständniß des Staatslebens könnte eine solche Vorstellung entstehen lassen.
Dennoch müssen wir nicht bloß von einer Beschwerde, sondern von einem Beschwerderecht reden, und dieses sogar als einen wesentlichen Theil des verfassungsmäßigen Verwaltungsrechts anerkennen.
Das Leben des Einzelnen, Grundlage und Ziel der Verwaltung im weitesten Sinne, kommt nämlich mit der vollziehenden Gewalt als solcher nicht in Berührung, sondern nur mit den Handlungen, durch welche sie vermöge ihres Willens ihre Organe vollzieht. Jede solche Berührung beschränkt immer die volle Freiheit der einzelnen Persönlich- keit. Diese Beschränkung ist nur dann im Wesen des allgemeinen Rechts begründet, wenn sie vom Staate und nicht vom Einzelnen ausgeht. Indem nun die Verantwortlichkeit die Identität des Geistes der Gesetze und der Vollziehung, das Klagrecht die Unverletzlichkeit der Gesetze gegenüber der Vollziehung, beide also die Harmonie zwischen Gesetz- gebung und Verwaltung sichern, bleibt nur das Gebiet der Verschieden- heit innerhalb des letztern; und die Sicherung daher, daß die in jeder vollziehenden Handlung liegende individuelle Beschränkung ein wirk- licher Ausfluß der Vollziehung ist, erscheint damit als die letzte Gewähr für das Leben der Harmonie im Staate selbst, und andererseits des Einzelrechts gegenüber dem Einzelorgane der Verwaltung. Es steht da- her selbständig da, und fordert seine selbständige Darlegung.
der wirklichen Vollziehung keine Rede ſein. Es iſt mithin ganz undenkbar, wegen einer ſolchen Differenz zwiſchen Verordnungen, Ver- fügungen und Handlungen eine Klage erheben zu können, welche ja unbedingt ein erworbenes Recht vorausſetzt. Sondern vermöge jener Freiheit der vollziehenden Gewalt kann, wenn der Einzelne durch eine ſolche Differenz ſich beeinträchtigt glaubt, nur ein Proceß eintreten, welcher die Uebereinſtimmung oder Nichtübereinſtimmung der den Einzelnen treffenden Handlung mit dem Willen der vollziehen- den Gewalt conſtatirt. Und dieſer Proceß iſt eben die Beſchwerde.
Dieſe Beſchwerde kann daher, ihrem eigenſten Weſen nach, gar nicht von einem Gerichte entſchieden werden. Der unauflösbare Wider- ſpruch, der hier in einer Thätigkeit des Gerichts läge, liegt auf der Hand. Das Gericht müßte dadurch das Recht bekommen, der Voll- ziehung das Feſthalten an dem, in ihrer Verordnung ausgeſprochenen Willen zur Pflicht zu machen, und für das Nichtfeſthalten — die Ab- weichung von demſelben — derſelben die Haftung zuzuſchreiben. Es leuchtet ein, daß ein ſolcher Satz das innerſte Weſen der Vollziehung vernichten und das ganze lebendige Staatsweſen gerade in dem Punkt tödten würde, wo es der Wirklichkeit angehört. Nur der entſchiedene Mangel an Verſtändniß des Staatslebens könnte eine ſolche Vorſtellung entſtehen laſſen.
Dennoch müſſen wir nicht bloß von einer Beſchwerde, ſondern von einem Beſchwerderecht reden, und dieſes ſogar als einen weſentlichen Theil des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts anerkennen.
Das Leben des Einzelnen, Grundlage und Ziel der Verwaltung im weiteſten Sinne, kommt nämlich mit der vollziehenden Gewalt als ſolcher nicht in Berührung, ſondern nur mit den Handlungen, durch welche ſie vermöge ihres Willens ihre Organe vollzieht. Jede ſolche Berührung beſchränkt immer die volle Freiheit der einzelnen Perſönlich- keit. Dieſe Beſchränkung iſt nur dann im Weſen des allgemeinen Rechts begründet, wenn ſie vom Staate und nicht vom Einzelnen ausgeht. Indem nun die Verantwortlichkeit die Identität des Geiſtes der Geſetze und der Vollziehung, das Klagrecht die Unverletzlichkeit der Geſetze gegenüber der Vollziehung, beide alſo die Harmonie zwiſchen Geſetz- gebung und Verwaltung ſichern, bleibt nur das Gebiet der Verſchieden- heit innerhalb des letztern; und die Sicherung daher, daß die in jeder vollziehenden Handlung liegende individuelle Beſchränkung ein wirk- licher Ausfluß der Vollziehung iſt, erſcheint damit als die letzte Gewähr für das Leben der Harmonie im Staate ſelbſt, und andererſeits des Einzelrechts gegenüber dem Einzelorgane der Verwaltung. Es ſteht da- her ſelbſtändig da, und fordert ſeine ſelbſtändige Darlegung.
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der wirklichen Vollziehung keine Rede ſein. Es iſt mithin ganz
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Freiheit der vollziehenden Gewalt kann, wenn der Einzelne durch eine
ſolche Differenz ſich beeinträchtigt glaubt, nur ein Proceß eintreten,
welcher die Uebereinſtimmung oder Nichtübereinſtimmung der
den Einzelnen treffenden Handlung mit dem Willen der vollziehen-
den Gewalt conſtatirt. Und dieſer Proceß iſt eben die Beſchwerde.
Dieſe Beſchwerde kann daher, ihrem eigenſten Weſen nach, gar
nicht von einem Gerichte entſchieden werden. Der unauflösbare Wider-
ſpruch, der hier in einer Thätigkeit des Gerichts läge, liegt auf der
Hand. Das Gericht müßte dadurch das Recht bekommen, der Voll-
ziehung das Feſthalten an dem, in ihrer Verordnung ausgeſprochenen
Willen zur Pflicht zu machen, und für das Nichtfeſthalten — die Ab-
weichung von demſelben — derſelben die Haftung zuzuſchreiben. Es
leuchtet ein, daß ein ſolcher Satz das innerſte Weſen der Vollziehung
vernichten und das ganze lebendige Staatsweſen gerade in dem Punkt
tödten würde, wo es der Wirklichkeit angehört. Nur der entſchiedene
Mangel an Verſtändniß des Staatslebens könnte eine ſolche Vorſtellung
entſtehen laſſen.
Dennoch müſſen wir nicht bloß von einer Beſchwerde, ſondern von
einem Beſchwerderecht reden, und dieſes ſogar als einen weſentlichen
Theil des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts anerkennen.
Das Leben des Einzelnen, Grundlage und Ziel der Verwaltung
im weiteſten Sinne, kommt nämlich mit der vollziehenden Gewalt als
ſolcher nicht in Berührung, ſondern nur mit den Handlungen, durch
welche ſie vermöge ihres Willens ihre Organe vollzieht. Jede ſolche
Berührung beſchränkt immer die volle Freiheit der einzelnen Perſönlich-
keit. Dieſe Beſchränkung iſt nur dann im Weſen des allgemeinen Rechts
begründet, wenn ſie vom Staate und nicht vom Einzelnen ausgeht.
Indem nun die Verantwortlichkeit die Identität des Geiſtes der Geſetze
und der Vollziehung, das Klagrecht die Unverletzlichkeit der Geſetze
gegenüber der Vollziehung, beide alſo die Harmonie zwiſchen Geſetz-
gebung und Verwaltung ſichern, bleibt nur das Gebiet der Verſchieden-
heit innerhalb des letztern; und die Sicherung daher, daß die in jeder
vollziehenden Handlung liegende individuelle Beſchränkung ein wirk-
licher Ausfluß der Vollziehung iſt, erſcheint damit als die letzte Gewähr
für das Leben der Harmonie im Staate ſelbſt, und andererſeits des
Einzelrechts gegenüber dem Einzelorgane der Verwaltung. Es ſteht da-
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/148>, abgerufen am 22.11.2024.
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