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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Verordnungsgewalt der Selbstverwaltung, eine so ausführliche und thätige ist,
was eben seinerseits wieder den Grund dafür abgibt, daß der Verwaltungs-
organismus des Staats eine verhältnißmäßig so höchst unvollkommene Aus-
bildung erfahren hat. Man kann daher auf Englands Zustände weder den fran-
zösischen Begriff des Contentieux anwenden, noch den deutschen der Admini-
strativ- und Justizsachen, und daß man das nicht kann, ist auch der Grund,
weßhalb man Englands Verordnungsrecht weder in Frankreich noch in Deutsch-
land bis auf Gneist verstanden hat. Nur der Unterschied zwischen Gesetz und
Verordnung und der Unterschied von Klage und Beschwerde, strenge und im
Princip durchgeführt, zeigt uns das wahre Wesen der englischen Zustände, die
wiederum alle bürgerliche Freiheit ertödtet hätten, namentlich in den untern
Sphären des bürgerlichen Lebens, wenn nicht die Thätigkeit und die gesetzliche
Verordnungsgewalt der Selbstverwaltung in allen Gebieten der öffentlichen
Zustände jener Verordnungsgewalt der Friedensrichter nur einen so engen Raum
übrig gelassen hätte. Eben das ist auch die, nirgends in dem Maße so ent-
scheidend hervortretende Bedeutung des selfgovernment in England, von dem
wir später zu reden haben. Es ist gerade darum die Basis der englischen
Freiheit, weil das Verordnungsrecht Englands noch immer --
und wohl für immer -- auf der Verschmelzung der Justiz und der
Administration beruht
.

Ein wesentlich verschiedenes Bild -- aber dennoch auf derselben festen
Grundlage des Klag- und Beschwerderechts -- bietet uns nun Frankreich dar.

Das Verordnungsrecht in Frankreich. (La jurisdiction administrative
et le contentieux.)

Wenn wir oben gesagt haben, daß Englands Verordnungsrecht und die
ganze Stellung des Friedensrichters gar nicht zu verstehen ist ohne die englische,
beständig thätige Selbstverwaltung, so ist andererseits die französische jurisdiction
administrative
nur als der wir möchten sagen bürgerlich rechtliche Ausdruck der
französischen Staatsidee zu begreifen.

Frankreichs ganze Geschichte zeigt uns so weit wir blicken einen beständigen
und zum Theil verzweifelten Kampf des neutralen Königthums mit der ur-
sprünglich in Frankreich so gut als in Deutschland geltenden lehensherrlichen
Selbständigkeit. In diesem Kampfe handelt es sich eigentlich keineswegs um
gewisse allgemeine Principien und abstrakte Rechtsgrundsätze. Wir sehen viel-
mehr gleich von Anfang an das Königthum sich mit seinen Beamteten umgeben,
und die Monarchie mit einem Systeme von Organen umfassen, die im Namen
der souverainete das höchste Recht im Reiche zu verwalten hatten. Ich darf
dabei wohl auf meine französische Rechtsgeschichte verweisen, in der dieser Ent-
wicklungsgang seit dem 13. Jahrhundert, wie ich glaube, so weit es innerhalb
beschränkten Raumes möglich war, an den baillis, senechaux etc. nachge-
wiesen, und zugleich gezeigt ist, wie sich dieser königlichen Gewalt naturgemäß
die Communes anschloßen, die im Königthum ihre wesentliche Stütze gegen die
Lehensherrn fanden. Die königliche Gewalt und mithin namentlich die allgegen-
wärtige und einheitliche Funktion der großen königlichen Beamteten war daher

Verordnungsgewalt der Selbſtverwaltung, eine ſo ausführliche und thätige iſt,
was eben ſeinerſeits wieder den Grund dafür abgibt, daß der Verwaltungs-
organismus des Staats eine verhältnißmäßig ſo höchſt unvollkommene Aus-
bildung erfahren hat. Man kann daher auf Englands Zuſtände weder den fran-
zöſiſchen Begriff des Contentieux anwenden, noch den deutſchen der Admini-
ſtrativ- und Juſtizſachen, und daß man das nicht kann, iſt auch der Grund,
weßhalb man Englands Verordnungsrecht weder in Frankreich noch in Deutſch-
land bis auf Gneiſt verſtanden hat. Nur der Unterſchied zwiſchen Geſetz und
Verordnung und der Unterſchied von Klage und Beſchwerde, ſtrenge und im
Princip durchgeführt, zeigt uns das wahre Weſen der engliſchen Zuſtände, die
wiederum alle bürgerliche Freiheit ertödtet hätten, namentlich in den untern
Sphären des bürgerlichen Lebens, wenn nicht die Thätigkeit und die geſetzliche
Verordnungsgewalt der Selbſtverwaltung in allen Gebieten der öffentlichen
Zuſtände jener Verordnungsgewalt der Friedensrichter nur einen ſo engen Raum
übrig gelaſſen hätte. Eben das iſt auch die, nirgends in dem Maße ſo ent-
ſcheidend hervortretende Bedeutung des selfgovernment in England, von dem
wir ſpäter zu reden haben. Es iſt gerade darum die Baſis der engliſchen
Freiheit, weil das Verordnungsrecht Englands noch immer —
und wohl für immer — auf der Verſchmelzung der Juſtiz und der
Adminiſtration beruht
.

Ein weſentlich verſchiedenes Bild — aber dennoch auf derſelben feſten
Grundlage des Klag- und Beſchwerderechts — bietet uns nun Frankreich dar.

Das Verordnungsrecht in Frankreich. (La jurisdiction administrative
et le contentieux.)

Wenn wir oben geſagt haben, daß Englands Verordnungsrecht und die
ganze Stellung des Friedensrichters gar nicht zu verſtehen iſt ohne die engliſche,
beſtändig thätige Selbſtverwaltung, ſo iſt andererſeits die franzöſiſche jurisdiction
administrative
nur als der wir möchten ſagen bürgerlich rechtliche Ausdruck der
franzöſiſchen Staatsidee zu begreifen.

Frankreichs ganze Geſchichte zeigt uns ſo weit wir blicken einen beſtändigen
und zum Theil verzweifelten Kampf des neutralen Königthums mit der ur-
ſprünglich in Frankreich ſo gut als in Deutſchland geltenden lehensherrlichen
Selbſtändigkeit. In dieſem Kampfe handelt es ſich eigentlich keineswegs um
gewiſſe allgemeine Principien und abſtrakte Rechtsgrundſätze. Wir ſehen viel-
mehr gleich von Anfang an das Königthum ſich mit ſeinen Beamteten umgeben,
und die Monarchie mit einem Syſteme von Organen umfaſſen, die im Namen
der souveraineté das höchſte Recht im Reiche zu verwalten hatten. Ich darf
dabei wohl auf meine franzöſiſche Rechtsgeſchichte verweiſen, in der dieſer Ent-
wicklungsgang ſeit dem 13. Jahrhundert, wie ich glaube, ſo weit es innerhalb
beſchränkten Raumes möglich war, an den baillis, sénéchaux etc. nachge-
wieſen, und zugleich gezeigt iſt, wie ſich dieſer königlichen Gewalt naturgemäß
die Communes anſchloßen, die im Königthum ihre weſentliche Stütze gegen die
Lehensherrn fanden. Die königliche Gewalt und mithin namentlich die allgegen-
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[133/0157] Verordnungsgewalt der Selbſtverwaltung, eine ſo ausführliche und thätige iſt, was eben ſeinerſeits wieder den Grund dafür abgibt, daß der Verwaltungs- organismus des Staats eine verhältnißmäßig ſo höchſt unvollkommene Aus- bildung erfahren hat. Man kann daher auf Englands Zuſtände weder den fran- zöſiſchen Begriff des Contentieux anwenden, noch den deutſchen der Admini- ſtrativ- und Juſtizſachen, und daß man das nicht kann, iſt auch der Grund, weßhalb man Englands Verordnungsrecht weder in Frankreich noch in Deutſch- land bis auf Gneiſt verſtanden hat. Nur der Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verordnung und der Unterſchied von Klage und Beſchwerde, ſtrenge und im Princip durchgeführt, zeigt uns das wahre Weſen der engliſchen Zuſtände, die wiederum alle bürgerliche Freiheit ertödtet hätten, namentlich in den untern Sphären des bürgerlichen Lebens, wenn nicht die Thätigkeit und die geſetzliche Verordnungsgewalt der Selbſtverwaltung in allen Gebieten der öffentlichen Zuſtände jener Verordnungsgewalt der Friedensrichter nur einen ſo engen Raum übrig gelaſſen hätte. Eben das iſt auch die, nirgends in dem Maße ſo ent- ſcheidend hervortretende Bedeutung des selfgovernment in England, von dem wir ſpäter zu reden haben. Es iſt gerade darum die Baſis der engliſchen Freiheit, weil das Verordnungsrecht Englands noch immer — und wohl für immer — auf der Verſchmelzung der Juſtiz und der Adminiſtration beruht. Ein weſentlich verſchiedenes Bild — aber dennoch auf derſelben feſten Grundlage des Klag- und Beſchwerderechts — bietet uns nun Frankreich dar. Das Verordnungsrecht in Frankreich. (La jurisdiction administrative et le contentieux.) Wenn wir oben geſagt haben, daß Englands Verordnungsrecht und die ganze Stellung des Friedensrichters gar nicht zu verſtehen iſt ohne die engliſche, beſtändig thätige Selbſtverwaltung, ſo iſt andererſeits die franzöſiſche jurisdiction administrative nur als der wir möchten ſagen bürgerlich rechtliche Ausdruck der franzöſiſchen Staatsidee zu begreifen. Frankreichs ganze Geſchichte zeigt uns ſo weit wir blicken einen beſtändigen und zum Theil verzweifelten Kampf des neutralen Königthums mit der ur- ſprünglich in Frankreich ſo gut als in Deutſchland geltenden lehensherrlichen Selbſtändigkeit. In dieſem Kampfe handelt es ſich eigentlich keineswegs um gewiſſe allgemeine Principien und abſtrakte Rechtsgrundſätze. Wir ſehen viel- mehr gleich von Anfang an das Königthum ſich mit ſeinen Beamteten umgeben, und die Monarchie mit einem Syſteme von Organen umfaſſen, die im Namen der souveraineté das höchſte Recht im Reiche zu verwalten hatten. Ich darf dabei wohl auf meine franzöſiſche Rechtsgeſchichte verweiſen, in der dieſer Ent- wicklungsgang ſeit dem 13. Jahrhundert, wie ich glaube, ſo weit es innerhalb beſchränkten Raumes möglich war, an den baillis, sénéchaux etc. nachge- wieſen, und zugleich gezeigt iſt, wie ſich dieſer königlichen Gewalt naturgemäß die Communes anſchloßen, die im Königthum ihre weſentliche Stütze gegen die Lehensherrn fanden. Die königliche Gewalt und mithin namentlich die allgegen- wärtige und einheitliche Funktion der großen königlichen Beamteten war daher

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/157>, abgerufen am 21.11.2024.