Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

in großen Theilen vertreten; oft feindlich, oft friedlich, oft in
starrer Ruhe neben einander liegend, oft in gewaltiger Bewegung
einander begegnend, immer aber mächtig auf einander wirkend,
sich durchdringend, bestimmend, fördernd, bekämpfend; ein Reich,
das man mit dem gewöhnlichen Maße nun einmal nicht messen
kann, und das immer aufs neue mißverstanden wird, weil man
eben das gewöhnliche Maß an dasselbe anlegen will. Es ist ein
Europa im Kleinen. Es enthält alle Völker, alle Kirchen, alle
volkswirthschaftlichen Zustände, alle Rechtsbildungen des ganzen
Welttheiles in wunderbarer Nähe und Mischung. In keinem Theile
Europas ist so viel neues zu thun und so viel zu arbeiten als
hier; aber in keinem Theile ist auch ein so reiches Feld. Die ge-
waltige Bewegung des Fortschrittes, in der sich dieß mächtige Reich
befindet, ist jung; sie hat nicht bloß zum Theil ein altes Geschlecht,
alte Auffassungen, alte Gedanken, sondern auch tiefe Verschieden-
heiten des geistigen und wirthschaftlichen, des gesellschaftlichen und
staatlichen Lebens vorgefunden; sie hat den kühnen Versuch ge-
macht, mit der Achtung vor dem Ueberlieferten und Gegebenen
die frische und freie Anerkennung des Neuen zu verbinden. Sie
ist mitten in ihrer schweren Aufgabe; es ist ein großartiges
Werden, das uns hier entgegentritt, und für das die bekannten Formen
und Formeln, die auf streng ausgeprägter nationaler Individualität
ruhen, nicht ausreichen. Es will daher für sich betrachtet, für sich
erkannt werden. Es läßt sich nicht einfach einreihen in die Ver-
gleichung, denn jeder Punkt würde wieder seine eigene Geschichte
fordern. Darum hat Oesterreich zwar die Geschichte einer Groß-
macht, aber es hat keine Geschichtschreiber. Denn die Geschicht-
schreibung hat hier eine ganz andere Voraussetzung als in Eng-
land, Frankreich, Deutschland, andern Ländern. Sie kann nicht
von einer einfachen gegebenen Thatsache ausgehen und uns in
lebendigem Bilde den Wechsel ihrer Gestaltungen vorführen, wie
in Glück und Unglück, in Sieg und Niederlage immer dasselbe
Element als fester Boden in Volk und Land uns auf eine leicht-
verständliche, der Anschauung immer gegenwärtige Grundlage stellt.
Oesterreichs wahres Lebenselement ist keine solche Thatsache; es ist
eine lebendige Kraft, die seine Völker und Länder umschlingt.
Was nützt es, diese Kraft mit Einem Namen zu nennen? Aber

in großen Theilen vertreten; oft feindlich, oft friedlich, oft in
ſtarrer Ruhe neben einander liegend, oft in gewaltiger Bewegung
einander begegnend, immer aber mächtig auf einander wirkend,
ſich durchdringend, beſtimmend, fördernd, bekämpfend; ein Reich,
das man mit dem gewöhnlichen Maße nun einmal nicht meſſen
kann, und das immer aufs neue mißverſtanden wird, weil man
eben das gewöhnliche Maß an daſſelbe anlegen will. Es iſt ein
Europa im Kleinen. Es enthält alle Völker, alle Kirchen, alle
volkswirthſchaftlichen Zuſtände, alle Rechtsbildungen des ganzen
Welttheiles in wunderbarer Nähe und Miſchung. In keinem Theile
Europas iſt ſo viel neues zu thun und ſo viel zu arbeiten als
hier; aber in keinem Theile iſt auch ein ſo reiches Feld. Die ge-
waltige Bewegung des Fortſchrittes, in der ſich dieß mächtige Reich
befindet, iſt jung; ſie hat nicht bloß zum Theil ein altes Geſchlecht,
alte Auffaſſungen, alte Gedanken, ſondern auch tiefe Verſchieden-
heiten des geiſtigen und wirthſchaftlichen, des geſellſchaftlichen und
ſtaatlichen Lebens vorgefunden; ſie hat den kühnen Verſuch ge-
macht, mit der Achtung vor dem Ueberlieferten und Gegebenen
die friſche und freie Anerkennung des Neuen zu verbinden. Sie
iſt mitten in ihrer ſchweren Aufgabe; es iſt ein großartiges
Werden, das uns hier entgegentritt, und für das die bekannten Formen
und Formeln, die auf ſtreng ausgeprägter nationaler Individualität
ruhen, nicht ausreichen. Es will daher für ſich betrachtet, für ſich
erkannt werden. Es läßt ſich nicht einfach einreihen in die Ver-
gleichung, denn jeder Punkt würde wieder ſeine eigene Geſchichte
fordern. Darum hat Oeſterreich zwar die Geſchichte einer Groß-
macht, aber es hat keine Geſchichtſchreiber. Denn die Geſchicht-
ſchreibung hat hier eine ganz andere Vorausſetzung als in Eng-
land, Frankreich, Deutſchland, andern Ländern. Sie kann nicht
von einer einfachen gegebenen Thatſache ausgehen und uns in
lebendigem Bilde den Wechſel ihrer Geſtaltungen vorführen, wie
in Glück und Unglück, in Sieg und Niederlage immer daſſelbe
Element als feſter Boden in Volk und Land uns auf eine leicht-
verſtändliche, der Anſchauung immer gegenwärtige Grundlage ſtellt.
Oeſterreichs wahres Lebenselement iſt keine ſolche Thatſache; es iſt
eine lebendige Kraft, die ſeine Völker und Länder umſchlingt.
Was nützt es, dieſe Kraft mit Einem Namen zu nennen? Aber

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="dedication">
        <p><pb facs="#f0017" n="XI"/>
in großen Theilen vertreten; oft feindlich, oft friedlich, oft in<lb/>
&#x017F;tarrer Ruhe neben einander liegend, oft in gewaltiger Bewegung<lb/>
einander begegnend, immer aber mächtig auf einander wirkend,<lb/>
&#x017F;ich durchdringend, be&#x017F;timmend, fördernd, bekämpfend; ein Reich,<lb/>
das man mit dem gewöhnlichen Maße nun einmal nicht me&#x017F;&#x017F;en<lb/>
kann, und das immer aufs neue mißver&#x017F;tanden wird, weil man<lb/>
eben das gewöhnliche Maß an da&#x017F;&#x017F;elbe anlegen will. Es i&#x017F;t ein<lb/>
Europa im Kleinen. Es enthält alle Völker, alle Kirchen, alle<lb/>
volkswirth&#x017F;chaftlichen Zu&#x017F;tände, alle Rechtsbildungen des ganzen<lb/>
Welttheiles in wunderbarer Nähe und Mi&#x017F;chung. In keinem Theile<lb/>
Europas i&#x017F;t &#x017F;o viel neues zu thun und &#x017F;o viel zu arbeiten als<lb/>
hier; aber in keinem Theile i&#x017F;t auch ein &#x017F;o reiches Feld. Die ge-<lb/>
waltige Bewegung des Fort&#x017F;chrittes, in der &#x017F;ich dieß mächtige Reich<lb/>
befindet, i&#x017F;t jung; &#x017F;ie hat nicht bloß zum Theil ein altes Ge&#x017F;chlecht,<lb/>
alte Auffa&#x017F;&#x017F;ungen, alte Gedanken, &#x017F;ondern auch tiefe Ver&#x017F;chieden-<lb/>
heiten des gei&#x017F;tigen und wirth&#x017F;chaftlichen, des ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen und<lb/>
&#x017F;taatlichen Lebens vorgefunden; &#x017F;ie hat den kühnen Ver&#x017F;uch ge-<lb/>
macht, mit der Achtung vor dem Ueberlieferten und Gegebenen<lb/>
die fri&#x017F;che und freie Anerkennung des Neuen zu verbinden. Sie<lb/>
i&#x017F;t mitten in ihrer &#x017F;chweren Aufgabe; es i&#x017F;t ein großartiges<lb/>
Werden, das uns hier entgegentritt, und für das die bekannten Formen<lb/>
und Formeln, die auf &#x017F;treng ausgeprägter nationaler Individualität<lb/>
ruhen, nicht ausreichen. Es will daher für &#x017F;ich betrachtet, für &#x017F;ich<lb/>
erkannt werden. Es läßt &#x017F;ich nicht einfach einreihen in die Ver-<lb/>
gleichung, denn jeder Punkt würde wieder &#x017F;eine eigene Ge&#x017F;chichte<lb/>
fordern. Darum hat Oe&#x017F;terreich zwar die Ge&#x017F;chichte einer Groß-<lb/>
macht, aber es hat keine Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber. Denn die Ge&#x017F;chicht-<lb/>
&#x017F;chreibung hat hier eine ganz andere Voraus&#x017F;etzung als in Eng-<lb/>
land, Frankreich, Deut&#x017F;chland, andern Ländern. Sie kann nicht<lb/>
von einer einfachen gegebenen That&#x017F;ache ausgehen und uns in<lb/>
lebendigem Bilde den Wech&#x017F;el ihrer Ge&#x017F;taltungen vorführen, wie<lb/>
in Glück und Unglück, in Sieg und Niederlage immer da&#x017F;&#x017F;elbe<lb/>
Element als fe&#x017F;ter Boden in Volk und Land uns auf eine leicht-<lb/>
ver&#x017F;tändliche, der An&#x017F;chauung immer gegenwärtige Grundlage &#x017F;tellt.<lb/>
Oe&#x017F;terreichs wahres Lebenselement i&#x017F;t keine &#x017F;olche That&#x017F;ache; es i&#x017F;t<lb/>
eine lebendige Kraft, die &#x017F;eine Völker und Länder um&#x017F;chlingt.<lb/>
Was nützt es, die&#x017F;e Kraft mit Einem Namen zu nennen? Aber<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XI/0017] in großen Theilen vertreten; oft feindlich, oft friedlich, oft in ſtarrer Ruhe neben einander liegend, oft in gewaltiger Bewegung einander begegnend, immer aber mächtig auf einander wirkend, ſich durchdringend, beſtimmend, fördernd, bekämpfend; ein Reich, das man mit dem gewöhnlichen Maße nun einmal nicht meſſen kann, und das immer aufs neue mißverſtanden wird, weil man eben das gewöhnliche Maß an daſſelbe anlegen will. Es iſt ein Europa im Kleinen. Es enthält alle Völker, alle Kirchen, alle volkswirthſchaftlichen Zuſtände, alle Rechtsbildungen des ganzen Welttheiles in wunderbarer Nähe und Miſchung. In keinem Theile Europas iſt ſo viel neues zu thun und ſo viel zu arbeiten als hier; aber in keinem Theile iſt auch ein ſo reiches Feld. Die ge- waltige Bewegung des Fortſchrittes, in der ſich dieß mächtige Reich befindet, iſt jung; ſie hat nicht bloß zum Theil ein altes Geſchlecht, alte Auffaſſungen, alte Gedanken, ſondern auch tiefe Verſchieden- heiten des geiſtigen und wirthſchaftlichen, des geſellſchaftlichen und ſtaatlichen Lebens vorgefunden; ſie hat den kühnen Verſuch ge- macht, mit der Achtung vor dem Ueberlieferten und Gegebenen die friſche und freie Anerkennung des Neuen zu verbinden. Sie iſt mitten in ihrer ſchweren Aufgabe; es iſt ein großartiges Werden, das uns hier entgegentritt, und für das die bekannten Formen und Formeln, die auf ſtreng ausgeprägter nationaler Individualität ruhen, nicht ausreichen. Es will daher für ſich betrachtet, für ſich erkannt werden. Es läßt ſich nicht einfach einreihen in die Ver- gleichung, denn jeder Punkt würde wieder ſeine eigene Geſchichte fordern. Darum hat Oeſterreich zwar die Geſchichte einer Groß- macht, aber es hat keine Geſchichtſchreiber. Denn die Geſchicht- ſchreibung hat hier eine ganz andere Vorausſetzung als in Eng- land, Frankreich, Deutſchland, andern Ländern. Sie kann nicht von einer einfachen gegebenen Thatſache ausgehen und uns in lebendigem Bilde den Wechſel ihrer Geſtaltungen vorführen, wie in Glück und Unglück, in Sieg und Niederlage immer daſſelbe Element als feſter Boden in Volk und Land uns auf eine leicht- verſtändliche, der Anſchauung immer gegenwärtige Grundlage ſtellt. Oeſterreichs wahres Lebenselement iſt keine ſolche Thatſache; es iſt eine lebendige Kraft, die ſeine Völker und Länder umſchlingt. Was nützt es, dieſe Kraft mit Einem Namen zu nennen? Aber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/17
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. XI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/17>, abgerufen am 23.11.2024.