Gang der historischen Entwicklung Europas, der über diese Frage wie über alle andern zuletzt die Grundlage der Staatsrechtsbildung abgegeben hat. Wir werden ihn am besten in seinen Hauptepochen charakterisiren.
In der ersten Epoche ist nicht bloß das Recht der Organisirung in allen Formen der Selbstverwaltung, Land-, Gemeinde- und Körper- schaft, unzweifelhaft, sondern das Königthum macht gar keinen un- mittelbaren Anspruch, in dieselbe hineinzugreifen, so wenig wie die feu- dale Vertretung des Volkes auf die Organisirung der eigentlich könig- lichen Verwaltung einen Einfluß nimmt. Es sind eben zwei staatliche, ganz selbständig neben einander stehende Gebiete der Verwaltung, die nur in der Person des Königs und der unbestimmten Idee des Staats zusammenhängen. Der Organismus der Selbstverwaltung bildet sich auf dem Boden der gegebenen gesellschaftlichen Zustände, der Organis- mus des Königthums auf dem Boden des selbständigen staatlichen Be- dürfnisses. Das Recht auf völlige Selbständigkeit in der beiderseitigen Organisirung erscheint als unantastbar; es sind zwei gleichberechtigt funktionirende Körper.
In der zweiten Epoche dagegen beginnt das Königthum seinen Kampf mit dieser Selbständigkeit. Dieser Kampf erstreckt sich nun eigent- lich nirgends direkt auf die Organisation der selbständigen Verwaltungs- körper, sondern nur auf ihre Thätigkeit. Allein schon in dieser Epoche gelingt es dem Königthum, das Recht der Bestätigung für die ganze Ordnung dieser Körper wenigstens zum Theil zu gewinnen, die dann unter der Form von Privilegien erscheint, der Regel nach jedoch die historische Organisation bestehen läßt. Die Theilnahme der höchsten Staatsgewalt erscheint in dieser Epoche vielmehr in dem Auftreten neuer königlicher Organe, der Landschafts- und Gemeindebeamteten, und so entsteht ein Zustand, in welchem die natürliche Selbständigkeit der Orga- nisation der Selbstverwaltung als eine freie Bewilligung von Seiten der Staatsgewalt erscheint, ohne daß eine objektiv gültige Gränze für dasjenige bestünde, wozu die letztere berechtigt ist, wozu nicht. Diese Unbestimmtheit ist allerdings nicht bloß für die Organisation vorhanden; sie erstreckt sich über das ganze Leben der Selbstverwaltung und beruht, wie wir schon gesagt, auf der allgemeinen Verschmelzung der Gewalten im Staat, in welcher damit der Begriff des Gesetzes in dem der Ver- ordnung unterging. Dadurch wurde formell die persönliche Staats- gewalt wirklich zur allein berechtigten Gewalt auch für die Organisation der Selbstverwaltung, und übte sie im Grunde nur darum nicht aus, weil überhaupt die Selbstverwaltung fast keine Bedeutung mehr hatte.
In diesem Zustande lag der Widerspruch, der überhaupt jede vollständige Vernichtung der Selbständigkeit und Selbstthätigkeit des
Gang der hiſtoriſchen Entwicklung Europas, der über dieſe Frage wie über alle andern zuletzt die Grundlage der Staatsrechtsbildung abgegeben hat. Wir werden ihn am beſten in ſeinen Hauptepochen charakteriſiren.
In der erſten Epoche iſt nicht bloß das Recht der Organiſirung in allen Formen der Selbſtverwaltung, Land-, Gemeinde- und Körper- ſchaft, unzweifelhaft, ſondern das Königthum macht gar keinen un- mittelbaren Anſpruch, in dieſelbe hineinzugreifen, ſo wenig wie die feu- dale Vertretung des Volkes auf die Organiſirung der eigentlich könig- lichen Verwaltung einen Einfluß nimmt. Es ſind eben zwei ſtaatliche, ganz ſelbſtändig neben einander ſtehende Gebiete der Verwaltung, die nur in der Perſon des Königs und der unbeſtimmten Idee des Staats zuſammenhängen. Der Organismus der Selbſtverwaltung bildet ſich auf dem Boden der gegebenen geſellſchaftlichen Zuſtände, der Organis- mus des Königthums auf dem Boden des ſelbſtändigen ſtaatlichen Be- dürfniſſes. Das Recht auf völlige Selbſtändigkeit in der beiderſeitigen Organiſirung erſcheint als unantaſtbar; es ſind zwei gleichberechtigt funktionirende Körper.
In der zweiten Epoche dagegen beginnt das Königthum ſeinen Kampf mit dieſer Selbſtändigkeit. Dieſer Kampf erſtreckt ſich nun eigent- lich nirgends direkt auf die Organiſation der ſelbſtändigen Verwaltungs- körper, ſondern nur auf ihre Thätigkeit. Allein ſchon in dieſer Epoche gelingt es dem Königthum, das Recht der Beſtätigung für die ganze Ordnung dieſer Körper wenigſtens zum Theil zu gewinnen, die dann unter der Form von Privilegien erſcheint, der Regel nach jedoch die hiſtoriſche Organiſation beſtehen läßt. Die Theilnahme der höchſten Staatsgewalt erſcheint in dieſer Epoche vielmehr in dem Auftreten neuer königlicher Organe, der Landſchafts- und Gemeindebeamteten, und ſo entſteht ein Zuſtand, in welchem die natürliche Selbſtändigkeit der Orga- niſation der Selbſtverwaltung als eine freie Bewilligung von Seiten der Staatsgewalt erſcheint, ohne daß eine objektiv gültige Gränze für dasjenige beſtünde, wozu die letztere berechtigt iſt, wozu nicht. Dieſe Unbeſtimmtheit iſt allerdings nicht bloß für die Organiſation vorhanden; ſie erſtreckt ſich über das ganze Leben der Selbſtverwaltung und beruht, wie wir ſchon geſagt, auf der allgemeinen Verſchmelzung der Gewalten im Staat, in welcher damit der Begriff des Geſetzes in dem der Ver- ordnung unterging. Dadurch wurde formell die perſönliche Staats- gewalt wirklich zur allein berechtigten Gewalt auch für die Organiſation der Selbſtverwaltung, und übte ſie im Grunde nur darum nicht aus, weil überhaupt die Selbſtverwaltung faſt keine Bedeutung mehr hatte.
In dieſem Zuſtande lag der Widerſpruch, der überhaupt jede vollſtändige Vernichtung der Selbſtändigkeit und Selbſtthätigkeit des
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Gang der hiſtoriſchen Entwicklung Europas, der über dieſe Frage wie
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hat. Wir werden ihn am beſten in ſeinen Hauptepochen charakteriſiren.
In der erſten Epoche iſt nicht bloß das Recht der Organiſirung
in allen Formen der Selbſtverwaltung, Land-, Gemeinde- und Körper-
ſchaft, unzweifelhaft, ſondern das Königthum macht gar keinen un-
mittelbaren Anſpruch, in dieſelbe hineinzugreifen, ſo wenig wie die feu-
dale Vertretung des Volkes auf die Organiſirung der eigentlich könig-
lichen Verwaltung einen Einfluß nimmt. Es ſind eben zwei ſtaatliche,
ganz ſelbſtändig neben einander ſtehende Gebiete der Verwaltung, die
nur in der Perſon des Königs und der unbeſtimmten Idee des Staats
zuſammenhängen. Der Organismus der Selbſtverwaltung bildet ſich
auf dem Boden der gegebenen geſellſchaftlichen Zuſtände, der Organis-
mus des Königthums auf dem Boden des ſelbſtändigen ſtaatlichen Be-
dürfniſſes. Das Recht auf völlige Selbſtändigkeit in der beiderſeitigen
Organiſirung erſcheint als unantaſtbar; es ſind zwei gleichberechtigt
funktionirende Körper.
In der zweiten Epoche dagegen beginnt das Königthum ſeinen
Kampf mit dieſer Selbſtändigkeit. Dieſer Kampf erſtreckt ſich nun eigent-
lich nirgends direkt auf die Organiſation der ſelbſtändigen Verwaltungs-
körper, ſondern nur auf ihre Thätigkeit. Allein ſchon in dieſer Epoche
gelingt es dem Königthum, das Recht der Beſtätigung für die ganze
Ordnung dieſer Körper wenigſtens zum Theil zu gewinnen, die dann
unter der Form von Privilegien erſcheint, der Regel nach jedoch die
hiſtoriſche Organiſation beſtehen läßt. Die Theilnahme der höchſten
Staatsgewalt erſcheint in dieſer Epoche vielmehr in dem Auftreten neuer
königlicher Organe, der Landſchafts- und Gemeindebeamteten, und ſo
entſteht ein Zuſtand, in welchem die natürliche Selbſtändigkeit der Orga-
niſation der Selbſtverwaltung als eine freie Bewilligung von Seiten
der Staatsgewalt erſcheint, ohne daß eine objektiv gültige Gränze für
dasjenige beſtünde, wozu die letztere berechtigt iſt, wozu nicht. Dieſe
Unbeſtimmtheit iſt allerdings nicht bloß für die Organiſation vorhanden;
ſie erſtreckt ſich über das ganze Leben der Selbſtverwaltung und beruht,
wie wir ſchon geſagt, auf der allgemeinen Verſchmelzung der Gewalten
im Staat, in welcher damit der Begriff des Geſetzes in dem der Ver-
ordnung unterging. Dadurch wurde formell die perſönliche Staats-
gewalt wirklich zur allein berechtigten Gewalt auch für die Organiſation
der Selbſtverwaltung, und übte ſie im Grunde nur darum nicht aus,
weil überhaupt die Selbſtverwaltung faſt keine Bedeutung mehr hatte.
In dieſem Zuſtande lag der Widerſpruch, der überhaupt jede
vollſtändige Vernichtung der Selbſtändigkeit und Selbſtthätigkeit des
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/183>, abgerufen am 24.11.2024.
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