Aus dem erstern nämlich ergibt sich, daß jedes Organ der voll- ziehenden Gewalt irgend ein Maß jener drei Gewalten besitzen muß; und dieß Maß bildet nun sein Recht, welches Recht in Beziehung auf seine Begränzung sowohl gegenüber andern Organen als gegenüber sachlicher Verhältnisse die Competenz desselben heißt. Der Inhalt der Competenz eines jeden Organes ist daher das Maß der drei Ge- walten, welches demselben zukommt.
Dieses Maß kann nun natürlich kein willkürliches oder zufälliges sein. Mag jenes Organ sein, welches es will, so wird dasselbe stets als durch die äußerliche Aufgabe desselben bedingt erscheinen; es muß in Art und Umfang den Verhältnissen entsprechen, in denen es thätig sein soll; oder, das Recht des Organes muß mit den Aufgaben desselben in Harmonie stehen; oder, es muß ein so großes Maß von jeder jener drei Gewalten als sein Recht besitzen, als für die praktische Erfüllung derselben nothwendig ist. Das heißt, Gestalt, Umfang und Recht jedes Organes sind durch seine Aufgabe gegeben; die Aufgabe selbst ist die wahre Quelle der Zuständigkeit des Organes.
Diese Aufgabe und ihr Inhalt ist es nun, welche das zweite Lebenselement jedes Organs, seine Selbständigkeit erzeugt. Offenbar kann der Staat niemals die Gränze des Rechts der Organe genau und vollkommen erschöpfend bestimmen; es muß vielmehr jedes Organ, sei es welches es wolle, selbst mitarbeitend jene Gränze sich setzen, und für jene Gewalten sich selbst bis zu einem gewissen Grade seine Compe- tenz schaffen. Um das zu können, ohne gegen die Ordnung des Staats und den Geist seiner Gesetze zu verstoßen, muß es in seiner Wirksam- keit sich eben des Ganzen und der allgemeinern Aufgabe des Staats stets bewußt sein; es muß, indem es sich selbst sein Gebiet zum Theil ordnet, zum Theil schafft, sich in seiner organischen Verbindung mit dem innern und äußern Leben wissen und fühlen, und in diesem Sinne die Eigenthümlichkeiten der äußern Welt dem Willen des Staats auch da unterwerfen und harmonisch einordnen, wo der letztere sie nicht besonders beachtet oder verstanden hat. Das Recht und die Competenz des ein- zelnen Organes erscheinen daher zwar immer als äußere Gränzen des letztern, aber es muß in sich dennoch ein selbständiges eigenthümliches Leben durch seine eigne Thätigkeit, die geistige wie die materielle, ent- wickeln; es muß statt eines mechanischen, ein lebendiges Glied des großen Ganzen sein, ein selbständiger Körper, mit eigenem Geiste begabt; und erst dieß höhere, individuelle Wesen jedes Organes ist es, welches ein wissenschaftliches Verständniß möglich macht und uns von einer Wissenschaft des Verwaltungsorganismus reden läßt. Denn die Aufgabe dieser Wissenschaft besteht nunmehr nicht bloß darin, die durch
Stein, die Verwaltungslehre. I. 15
Aus dem erſtern nämlich ergibt ſich, daß jedes Organ der voll- ziehenden Gewalt irgend ein Maß jener drei Gewalten beſitzen muß; und dieß Maß bildet nun ſein Recht, welches Recht in Beziehung auf ſeine Begränzung ſowohl gegenüber andern Organen als gegenüber ſachlicher Verhältniſſe die Competenz deſſelben heißt. Der Inhalt der Competenz eines jeden Organes iſt daher das Maß der drei Ge- walten, welches demſelben zukommt.
Dieſes Maß kann nun natürlich kein willkürliches oder zufälliges ſein. Mag jenes Organ ſein, welches es will, ſo wird daſſelbe ſtets als durch die äußerliche Aufgabe deſſelben bedingt erſcheinen; es muß in Art und Umfang den Verhältniſſen entſprechen, in denen es thätig ſein ſoll; oder, das Recht des Organes muß mit den Aufgaben deſſelben in Harmonie ſtehen; oder, es muß ein ſo großes Maß von jeder jener drei Gewalten als ſein Recht beſitzen, als für die praktiſche Erfüllung derſelben nothwendig iſt. Das heißt, Geſtalt, Umfang und Recht jedes Organes ſind durch ſeine Aufgabe gegeben; die Aufgabe ſelbſt iſt die wahre Quelle der Zuſtändigkeit des Organes.
Dieſe Aufgabe und ihr Inhalt iſt es nun, welche das zweite Lebenselement jedes Organs, ſeine Selbſtändigkeit erzeugt. Offenbar kann der Staat niemals die Gränze des Rechts der Organe genau und vollkommen erſchöpfend beſtimmen; es muß vielmehr jedes Organ, ſei es welches es wolle, ſelbſt mitarbeitend jene Gränze ſich ſetzen, und für jene Gewalten ſich ſelbſt bis zu einem gewiſſen Grade ſeine Compe- tenz ſchaffen. Um das zu können, ohne gegen die Ordnung des Staats und den Geiſt ſeiner Geſetze zu verſtoßen, muß es in ſeiner Wirkſam- keit ſich eben des Ganzen und der allgemeinern Aufgabe des Staats ſtets bewußt ſein; es muß, indem es ſich ſelbſt ſein Gebiet zum Theil ordnet, zum Theil ſchafft, ſich in ſeiner organiſchen Verbindung mit dem innern und äußern Leben wiſſen und fühlen, und in dieſem Sinne die Eigenthümlichkeiten der äußern Welt dem Willen des Staats auch da unterwerfen und harmoniſch einordnen, wo der letztere ſie nicht beſonders beachtet oder verſtanden hat. Das Recht und die Competenz des ein- zelnen Organes erſcheinen daher zwar immer als äußere Gränzen des letztern, aber es muß in ſich dennoch ein ſelbſtändiges eigenthümliches Leben durch ſeine eigne Thätigkeit, die geiſtige wie die materielle, ent- wickeln; es muß ſtatt eines mechaniſchen, ein lebendiges Glied des großen Ganzen ſein, ein ſelbſtändiger Körper, mit eigenem Geiſte begabt; und erſt dieß höhere, individuelle Weſen jedes Organes iſt es, welches ein wiſſenſchaftliches Verſtändniß möglich macht und uns von einer Wiſſenſchaft des Verwaltungsorganismus reden läßt. Denn die Aufgabe dieſer Wiſſenſchaft beſteht nunmehr nicht bloß darin, die durch
Stein, die Verwaltungslehre. I. 15
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Aus dem erſtern nämlich ergibt ſich, daß jedes Organ der voll-
ziehenden Gewalt irgend ein Maß jener drei Gewalten beſitzen muß;
und dieß Maß bildet nun ſein Recht, welches Recht in Beziehung auf
ſeine Begränzung ſowohl gegenüber andern Organen als gegenüber
ſachlicher Verhältniſſe die Competenz deſſelben heißt. Der Inhalt
der Competenz eines jeden Organes iſt daher das Maß der drei Ge-
walten, welches demſelben zukommt.
Dieſes Maß kann nun natürlich kein willkürliches oder zufälliges
ſein. Mag jenes Organ ſein, welches es will, ſo wird daſſelbe ſtets
als durch die äußerliche Aufgabe deſſelben bedingt erſcheinen; es muß
in Art und Umfang den Verhältniſſen entſprechen, in denen es thätig
ſein ſoll; oder, das Recht des Organes muß mit den Aufgaben deſſelben
in Harmonie ſtehen; oder, es muß ein ſo großes Maß von jeder jener
drei Gewalten als ſein Recht beſitzen, als für die praktiſche Erfüllung
derſelben nothwendig iſt. Das heißt, Geſtalt, Umfang und Recht
jedes Organes ſind durch ſeine Aufgabe gegeben; die Aufgabe ſelbſt
iſt die wahre Quelle der Zuſtändigkeit des Organes.
Dieſe Aufgabe und ihr Inhalt iſt es nun, welche das zweite
Lebenselement jedes Organs, ſeine Selbſtändigkeit erzeugt. Offenbar
kann der Staat niemals die Gränze des Rechts der Organe genau
und vollkommen erſchöpfend beſtimmen; es muß vielmehr jedes Organ,
ſei es welches es wolle, ſelbſt mitarbeitend jene Gränze ſich ſetzen, und
für jene Gewalten ſich ſelbſt bis zu einem gewiſſen Grade ſeine Compe-
tenz ſchaffen. Um das zu können, ohne gegen die Ordnung des Staats
und den Geiſt ſeiner Geſetze zu verſtoßen, muß es in ſeiner Wirkſam-
keit ſich eben des Ganzen und der allgemeinern Aufgabe des Staats
ſtets bewußt ſein; es muß, indem es ſich ſelbſt ſein Gebiet zum Theil
ordnet, zum Theil ſchafft, ſich in ſeiner organiſchen Verbindung mit dem
innern und äußern Leben wiſſen und fühlen, und in dieſem Sinne die
Eigenthümlichkeiten der äußern Welt dem Willen des Staats auch da
unterwerfen und harmoniſch einordnen, wo der letztere ſie nicht beſonders
beachtet oder verſtanden hat. Das Recht und die Competenz des ein-
zelnen Organes erſcheinen daher zwar immer als äußere Gränzen des
letztern, aber es muß in ſich dennoch ein ſelbſtändiges eigenthümliches
Leben durch ſeine eigne Thätigkeit, die geiſtige wie die materielle, ent-
wickeln; es muß ſtatt eines mechaniſchen, ein lebendiges Glied des
großen Ganzen ſein, ein ſelbſtändiger Körper, mit eigenem Geiſte
begabt; und erſt dieß höhere, individuelle Weſen jedes Organes iſt es,
welches ein wiſſenſchaftliches Verſtändniß möglich macht und uns von
einer Wiſſenſchaft des Verwaltungsorganismus reden läßt. Denn die
Aufgabe dieſer Wiſſenſchaft beſteht nunmehr nicht bloß darin, die durch
Stein, die Verwaltungslehre. I. 15
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/249>, abgerufen am 21.11.2024.
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