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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Nun sehen wir in der Gesammtheit der Verhältnisse, welche das
einzelne Individuum umfassen und enthalten, zwei sich ewig wieder-
holende Faktoren erscheinen und thätig sein. Der erste dieser Faktoren
-- und wir müssen hier so kurz als möglich sein -- ist die freie Selbst-
bestimmung der Persönlichkeit, der unendliche Keim ihrer Entwicklung.
Der zweite dieser Faktoren ist dagegen die äußere Welt, die ihr eigenes
Dasein hat, und die den Einzelnen auf allen Punkten umgibt und be-
schränkt. Sie ist die ewig neue Quelle der Unfreiheit, des Bestimmt-
werdens, der Unterwerfung der an sich freien Persönlichkeit unter das
ihr gegenständliche Dasein.

Aus diesen beiden einander entgegengesetzten Faktoren geht nun
ein Proceß hervor, den wir als den Proceß der Unterwerfung des
zweiten unter den ersten, der äußern Welt in all ihren Formen unter
die freie Selbstbestimmung des Individuums bezeichnen. Er beginnt
bei der rein natürlichen Form des Daseins der Persönlichkeit, bei der
Befriedigung des materiellen Bedürfens, und erhebt sich bis zu der
Berührung desselben mit der Gottheit zum Glauben, Lieben und Ahnen.
In allen tausend verschiedenen Formen, Bewegungen und Erfolgen ist
dennoch dieser Proceß immer derselbe. Wir nennen ihn mit Einem
Worte: er ist das Leben der Persönlichkeit.

Wie es daher ein Leben der einzelnen Persönlichkeit gibt, so gibt
es auch ein Leben des Staats.

Dieß Leben der Persönlichkeit erscheint nun dem Wesen derselben
gemäß, nicht etwa aus einer Reihe von zufälligen oder willkürlichen
Erscheinungen und Thatsachen. Es hat auf der einen Seite ein hohes
Ziel; es zeigt uns die höchste, vollendetste Form der irdischen Persön-
lichkeit mit der Gesammtheit aller äußern natürlichen Dinge im Kampfe;
es ist gleichsam die höchste Anstrengung des persönlichen Daseins, einer
mit seiner ganzen gesammelten, auf Einen Punkt vereinten Kraft der
Menschen, um sich diese äußere Welt zu unterwerfen; es ist ander-
seits eben dadurch bedingt durch den gegebenen Inhalt des Wesens der
Persönlichkeit wie der natürlichen Welt. Das Leben des Staats ent-
faltet sich daher als ein großartiges Bild, aber als ein Bild, dessen
Grundzüge fest und klar in dem Wesen seiner beiden Elemente gegeben
sind, und das daher in allen seinen einzelnen Erscheinungen als eine
organische Bethätigung dieser Elemente erscheint. Und darum gibt es
nicht bloß eine Kenntniß dieses Lebens des Staates, sondern es gibt
eine Wissenschaft desselben. Denn das ist der Unterschied zwischen
der bloßen Kunde der Thatsachen und der Wissenschaft, daß diese das
Daseiende, welches sie weiß, als einen in seinen Grundlagen erkennbaren,
und darum für sie nothwendigen Proceß begreift, und erst da befriedigt

Nun ſehen wir in der Geſammtheit der Verhältniſſe, welche das
einzelne Individuum umfaſſen und enthalten, zwei ſich ewig wieder-
holende Faktoren erſcheinen und thätig ſein. Der erſte dieſer Faktoren
— und wir müſſen hier ſo kurz als möglich ſein — iſt die freie Selbſt-
beſtimmung der Perſönlichkeit, der unendliche Keim ihrer Entwicklung.
Der zweite dieſer Faktoren iſt dagegen die äußere Welt, die ihr eigenes
Daſein hat, und die den Einzelnen auf allen Punkten umgibt und be-
ſchränkt. Sie iſt die ewig neue Quelle der Unfreiheit, des Beſtimmt-
werdens, der Unterwerfung der an ſich freien Perſönlichkeit unter das
ihr gegenſtändliche Daſein.

Aus dieſen beiden einander entgegengeſetzten Faktoren geht nun
ein Proceß hervor, den wir als den Proceß der Unterwerfung des
zweiten unter den erſten, der äußern Welt in all ihren Formen unter
die freie Selbſtbeſtimmung des Individuums bezeichnen. Er beginnt
bei der rein natürlichen Form des Daſeins der Perſönlichkeit, bei der
Befriedigung des materiellen Bedürfens, und erhebt ſich bis zu der
Berührung deſſelben mit der Gottheit zum Glauben, Lieben und Ahnen.
In allen tauſend verſchiedenen Formen, Bewegungen und Erfolgen iſt
dennoch dieſer Proceß immer derſelbe. Wir nennen ihn mit Einem
Worte: er iſt das Leben der Perſönlichkeit.

Wie es daher ein Leben der einzelnen Perſönlichkeit gibt, ſo gibt
es auch ein Leben des Staats.

Dieß Leben der Perſönlichkeit erſcheint nun dem Weſen derſelben
gemäß, nicht etwa aus einer Reihe von zufälligen oder willkürlichen
Erſcheinungen und Thatſachen. Es hat auf der einen Seite ein hohes
Ziel; es zeigt uns die höchſte, vollendetſte Form der irdiſchen Perſön-
lichkeit mit der Geſammtheit aller äußern natürlichen Dinge im Kampfe;
es iſt gleichſam die höchſte Anſtrengung des perſönlichen Daſeins, einer
mit ſeiner ganzen geſammelten, auf Einen Punkt vereinten Kraft der
Menſchen, um ſich dieſe äußere Welt zu unterwerfen; es iſt ander-
ſeits eben dadurch bedingt durch den gegebenen Inhalt des Weſens der
Perſönlichkeit wie der natürlichen Welt. Das Leben des Staats ent-
faltet ſich daher als ein großartiges Bild, aber als ein Bild, deſſen
Grundzüge feſt und klar in dem Weſen ſeiner beiden Elemente gegeben
ſind, und das daher in allen ſeinen einzelnen Erſcheinungen als eine
organiſche Bethätigung dieſer Elemente erſcheint. Und darum gibt es
nicht bloß eine Kenntniß dieſes Lebens des Staates, ſondern es gibt
eine Wiſſenſchaft deſſelben. Denn das iſt der Unterſchied zwiſchen
der bloßen Kunde der Thatſachen und der Wiſſenſchaft, daß dieſe das
Daſeiende, welches ſie weiß, als einen in ſeinen Grundlagen erkennbaren,
und darum für ſie nothwendigen Proceß begreift, und erſt da befriedigt

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[3/0027] Nun ſehen wir in der Geſammtheit der Verhältniſſe, welche das einzelne Individuum umfaſſen und enthalten, zwei ſich ewig wieder- holende Faktoren erſcheinen und thätig ſein. Der erſte dieſer Faktoren — und wir müſſen hier ſo kurz als möglich ſein — iſt die freie Selbſt- beſtimmung der Perſönlichkeit, der unendliche Keim ihrer Entwicklung. Der zweite dieſer Faktoren iſt dagegen die äußere Welt, die ihr eigenes Daſein hat, und die den Einzelnen auf allen Punkten umgibt und be- ſchränkt. Sie iſt die ewig neue Quelle der Unfreiheit, des Beſtimmt- werdens, der Unterwerfung der an ſich freien Perſönlichkeit unter das ihr gegenſtändliche Daſein. Aus dieſen beiden einander entgegengeſetzten Faktoren geht nun ein Proceß hervor, den wir als den Proceß der Unterwerfung des zweiten unter den erſten, der äußern Welt in all ihren Formen unter die freie Selbſtbeſtimmung des Individuums bezeichnen. Er beginnt bei der rein natürlichen Form des Daſeins der Perſönlichkeit, bei der Befriedigung des materiellen Bedürfens, und erhebt ſich bis zu der Berührung deſſelben mit der Gottheit zum Glauben, Lieben und Ahnen. In allen tauſend verſchiedenen Formen, Bewegungen und Erfolgen iſt dennoch dieſer Proceß immer derſelbe. Wir nennen ihn mit Einem Worte: er iſt das Leben der Perſönlichkeit. Wie es daher ein Leben der einzelnen Perſönlichkeit gibt, ſo gibt es auch ein Leben des Staats. Dieß Leben der Perſönlichkeit erſcheint nun dem Weſen derſelben gemäß, nicht etwa aus einer Reihe von zufälligen oder willkürlichen Erſcheinungen und Thatſachen. Es hat auf der einen Seite ein hohes Ziel; es zeigt uns die höchſte, vollendetſte Form der irdiſchen Perſön- lichkeit mit der Geſammtheit aller äußern natürlichen Dinge im Kampfe; es iſt gleichſam die höchſte Anſtrengung des perſönlichen Daſeins, einer mit ſeiner ganzen geſammelten, auf Einen Punkt vereinten Kraft der Menſchen, um ſich dieſe äußere Welt zu unterwerfen; es iſt ander- ſeits eben dadurch bedingt durch den gegebenen Inhalt des Weſens der Perſönlichkeit wie der natürlichen Welt. Das Leben des Staats ent- faltet ſich daher als ein großartiges Bild, aber als ein Bild, deſſen Grundzüge feſt und klar in dem Weſen ſeiner beiden Elemente gegeben ſind, und das daher in allen ſeinen einzelnen Erſcheinungen als eine organiſche Bethätigung dieſer Elemente erſcheint. Und darum gibt es nicht bloß eine Kenntniß dieſes Lebens des Staates, ſondern es gibt eine Wiſſenſchaft deſſelben. Denn das iſt der Unterſchied zwiſchen der bloßen Kunde der Thatſachen und der Wiſſenſchaft, daß dieſe das Daſeiende, welches ſie weiß, als einen in ſeinen Grundlagen erkennbaren, und darum für ſie nothwendigen Proceß begreift, und erſt da befriedigt

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/27>, abgerufen am 21.11.2024.