Und jetzt möge es uns gestattet sein, auf Grundlage der obigen Bemerkungen eine Charakteristik eben jener Individualität des Organis- mus für England, Frankreich und Deutschland zu versuchen.
Englands Eigenthümlichkeit beruht auf der Thatsache, daß die staatsbürgerliche Gesellschaft zwar gesiegt, aber es keinesweges zur Allein- herrschaft gebracht hat. Im Gegentheil ist England bekanntlich das Land, in welchem die ständische Gesellschaftsordnung noch in voller An- erkennung neben der freien steht. So ist eine Grundlage des Volks- rechts entstanden, wie sie nirgends besteht. Das Königthum ist zwar principiell das Haupt des Staats; allein der Wille des Staats ist ge- geben von dem harmonischen Zusammenwirken der beiden Gesellschafts- ordnungen, die im Oberhaus und im Unterhaus vertreten sind. Die Abwesenheit des Streites zwischen beiden ist es, welche sie dem König- thum gegenüber allmächtig macht; die freie Entwicklung der staatsbürger- lichen Gesellschaft legt den Schwerpunkt der innern Thätigkeit in die Selbstverwaltung, und durch das Zusammenwirken beider Momente entsteht der Zustand, der Englands Organismus charakterisirt. Der persönliche Staat ist nicht wie auf dem Continent, zur Entwicklung ge- diehen; er regiert nicht und hat daher auch keinen Amtsorganismus wie hier. Der Amtsorganismus vertritt nicht ein selbständiges Etwas außerhalb der Volksvertretung und ihrem Willen, es gibt keine, durch die höhere Idee des Staats begründete, in der Natur der Sache liegende Verwaltung; es kann sich der Amtsorganismus weder zu seinem höheren ethischen Bewußtsein erheben, noch auch an das Königthum anschließen, sondern die Organe der vollziehenden Staatsgewalt sind materiell die Mandatare der Volksvertretung und ihres Willens, wenn sie auch formell im Namen des Königs handeln; eine selbständige Funktion des Staats als solchen gibt es diesem Willen gegenüber nicht; es gibt eigentlich kein rechtes Amt und keinen rechten Amtsorganismus. Die vollständige Herrschaft der Volksvertretung, beruhend auf der Einigkeit der ständischen und staatsbürgerlichen Gesellschaft, hat hier vielmehr jenes merkwürdige System geschaffen, das wir mit so vieler Mühe ver- stehen, weil auch wir so viel Mühe haben, uns in andere Gestaltungen zu versetzen. Der Lebensproceß des englischen Staats beruht auf drei Momenten. Das erste ist die Gesetzgebung, das zweite ist die Selbst- verwaltung, das dritte ist die richterliche Funktion. Die Bewegung zwischen ihnen, und damit das Wesen des englischen Organismus, durch
V. England, Frankreich und Deutſchland.
Und jetzt möge es uns geſtattet ſein, auf Grundlage der obigen Bemerkungen eine Charakteriſtik eben jener Individualität des Organis- mus für England, Frankreich und Deutſchland zu verſuchen.
Englands Eigenthümlichkeit beruht auf der Thatſache, daß die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zwar geſiegt, aber es keinesweges zur Allein- herrſchaft gebracht hat. Im Gegentheil iſt England bekanntlich das Land, in welchem die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung noch in voller An- erkennung neben der freien ſteht. So iſt eine Grundlage des Volks- rechts entſtanden, wie ſie nirgends beſteht. Das Königthum iſt zwar principiell das Haupt des Staats; allein der Wille des Staats iſt ge- geben von dem harmoniſchen Zuſammenwirken der beiden Geſellſchafts- ordnungen, die im Oberhaus und im Unterhaus vertreten ſind. Die Abweſenheit des Streites zwiſchen beiden iſt es, welche ſie dem König- thum gegenüber allmächtig macht; die freie Entwicklung der ſtaatsbürger- lichen Geſellſchaft legt den Schwerpunkt der innern Thätigkeit in die Selbſtverwaltung, und durch das Zuſammenwirken beider Momente entſteht der Zuſtand, der Englands Organismus charakteriſirt. Der perſönliche Staat iſt nicht wie auf dem Continent, zur Entwicklung ge- diehen; er regiert nicht und hat daher auch keinen Amtsorganismus wie hier. Der Amtsorganismus vertritt nicht ein ſelbſtändiges Etwas außerhalb der Volksvertretung und ihrem Willen, es gibt keine, durch die höhere Idee des Staats begründete, in der Natur der Sache liegende Verwaltung; es kann ſich der Amtsorganismus weder zu ſeinem höheren ethiſchen Bewußtſein erheben, noch auch an das Königthum anſchließen, ſondern die Organe der vollziehenden Staatsgewalt ſind materiell die Mandatare der Volksvertretung und ihres Willens, wenn ſie auch formell im Namen des Königs handeln; eine ſelbſtändige Funktion des Staats als ſolchen gibt es dieſem Willen gegenüber nicht; es gibt eigentlich kein rechtes Amt und keinen rechten Amtsorganismus. Die vollſtändige Herrſchaft der Volksvertretung, beruhend auf der Einigkeit der ſtändiſchen und ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, hat hier vielmehr jenes merkwürdige Syſtem geſchaffen, das wir mit ſo vieler Mühe ver- ſtehen, weil auch wir ſo viel Mühe haben, uns in andere Geſtaltungen zu verſetzen. Der Lebensproceß des engliſchen Staats beruht auf drei Momenten. Das erſte iſt die Geſetzgebung, das zweite iſt die Selbſt- verwaltung, das dritte iſt die richterliche Funktion. Die Bewegung zwiſchen ihnen, und damit das Weſen des engliſchen Organismus, durch
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V.
England, Frankreich und Deutſchland.
Und jetzt möge es uns geſtattet ſein, auf Grundlage der obigen
Bemerkungen eine Charakteriſtik eben jener Individualität des Organis-
mus für England, Frankreich und Deutſchland zu verſuchen.
Englands Eigenthümlichkeit beruht auf der Thatſache, daß die
ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zwar geſiegt, aber es keinesweges zur Allein-
herrſchaft gebracht hat. Im Gegentheil iſt England bekanntlich das
Land, in welchem die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung noch in voller An-
erkennung neben der freien ſteht. So iſt eine Grundlage des Volks-
rechts entſtanden, wie ſie nirgends beſteht. Das Königthum iſt zwar
principiell das Haupt des Staats; allein der Wille des Staats iſt ge-
geben von dem harmoniſchen Zuſammenwirken der beiden Geſellſchafts-
ordnungen, die im Oberhaus und im Unterhaus vertreten ſind. Die
Abweſenheit des Streites zwiſchen beiden iſt es, welche ſie dem König-
thum gegenüber allmächtig macht; die freie Entwicklung der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft legt den Schwerpunkt der innern Thätigkeit in die
Selbſtverwaltung, und durch das Zuſammenwirken beider Momente
entſteht der Zuſtand, der Englands Organismus charakteriſirt. Der
perſönliche Staat iſt nicht wie auf dem Continent, zur Entwicklung ge-
diehen; er regiert nicht und hat daher auch keinen Amtsorganismus
wie hier. Der Amtsorganismus vertritt nicht ein ſelbſtändiges Etwas
außerhalb der Volksvertretung und ihrem Willen, es gibt keine, durch
die höhere Idee des Staats begründete, in der Natur der Sache liegende
Verwaltung; es kann ſich der Amtsorganismus weder zu ſeinem höheren
ethiſchen Bewußtſein erheben, noch auch an das Königthum anſchließen,
ſondern die Organe der vollziehenden Staatsgewalt ſind materiell die
Mandatare der Volksvertretung und ihres Willens, wenn ſie auch
formell im Namen des Königs handeln; eine ſelbſtändige Funktion des
Staats als ſolchen gibt es dieſem Willen gegenüber nicht; es gibt
eigentlich kein rechtes Amt und keinen rechten Amtsorganismus. Die
vollſtändige Herrſchaft der Volksvertretung, beruhend auf der Einigkeit
der ſtändiſchen und ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, hat hier vielmehr
jenes merkwürdige Syſtem geſchaffen, das wir mit ſo vieler Mühe ver-
ſtehen, weil auch wir ſo viel Mühe haben, uns in andere Geſtaltungen
zu verſetzen. Der Lebensproceß des engliſchen Staats beruht auf drei
Momenten. Das erſte iſt die Geſetzgebung, das zweite iſt die Selbſt-
verwaltung, das dritte iſt die richterliche Funktion. Die Bewegung
zwiſchen ihnen, und damit das Weſen des engliſchen Organismus, durch
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/277>, abgerufen am 22.11.2024.
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